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Max Winter

Nochmals die Höhlenbewohner in Wien

Was der Luegersche Magistrat Pflichterfüllung nennt!

Arbeiter-Zeitung Nr. 225 vom 18. 8. 1901

Unsere Enthüllungen über die grauenhaften Zustände beim Bau des Winterhafens in der Freudenau haben zwei gute Wirkungen gehabt. Erstens raffte sich die Sanitätsbehörde – in dem Falle das magistratische Bezirksamt für den II. Bezirk – nun endlich zu der Energie auf, die sie schon seit Beginn der Arbeiten, das ist seit 1899, hätte entfalten sollen, und zweitens wurde dank dem Umstande, daß sich die schuldigen Herren keinen geschickteren Vertheidiger gefunden, als das «Deutsche Volksblatt», die ganze Schmach ihrer Ohnmacht, aber auch die ganze Schmach ihrer Energielosigkeit aufgedeckt.

Wir haben bereits kurz mitgetheilt, daß unsere Schilderungen vom 11. August eine Kommission des magistratischen Bezirksamtes Leopoldstadt veranlaßten, Dienstag den 13. August da unten Nachschau zu halten und die Räumung der sanitätswidrigen Hütten zu veranlassen. Wir erhielten von unserem Erfolg erst aus den bürgerlichen Blättern Kunde, da die christlich-soziale Korrespondenz, die die Nachricht verschickte, uns nichts senden darf. Am ausführlichsten war das «Deutsche Volksblatt». Es konnte den Schmerz nicht verwinden, daß es wieder einmal die «Arbeiter-Zeitung» war, die den Finger auf eine seit langem eiternde Wunde legte und dadurch erst die christlich-sozialen Doktoren zwang, einzugreifen; es konnte nicht verwinden, daß es die «Arbeiter-Zeitung» war, die den Satz schrieb: «Den Oberantisemiten bleibt es gleich, wie der jüdische Unternehmer Mittelmann die Arbeiter schindet»; es konnte den ganzen Artikel nicht verwinden und machte darum eine Dummheit. Es gab nämlich in seiner Donnerstagnummer einen «authentischen Bericht über die ganze Angelegenheit» wieder, um dadurch zu erweisen, daß ein Satz, das sind sechzehn Wörter unseres Artikels, der sechs Spalten der «Arbeiter-Zeitung» füllte, «nur eine Phrase» sei. Der Satz bezog sich auf die Höhlenhütten der «Kubikaschen», die zwischen dem Donaukanal und dem Winterhafen stehen und lautet: «Dennoch stehen die Hütten schon seit Jahren, und kein Mensch hat sich bisher darum gekümmert!» Dieser Satz, liebes Volksblatt, ist leider nicht Phrase. Es ist thatsächlich so: Kein Mensch hat sich bisher darum gekümmert, auch nicht die Herren vom magistratischen Bezirksamt II. sonst hätten sie nicht, wie du ein Stückchen weiter unten mittheilst, frei nach der «Arbeiter-Zeitung» vom Sonntag, erst am Dienstag den 13. August die «interessante Entdeckung» machen können, «daß die bisher zwischen dem Hafen und dem Donaustrom bestandenen Erdhütten entfernt, jedoch jenseits des Hafens zwischen diesem und dem Donaukanal wieder aufgestellt worden waren». Hätten sich die Herren vom magistratischen Bezirksamt um diese Hütten gekümmert, dann hätte ihnen nicht erst ein «Schmock» der «Arbeiter-Zeitung» in seiner Schilderung den Weg mit den Worten weisen müssen: «Wir sind nun mit den auf der Landstrecke zwischen dem Winterhafen und dem Donaustrom liegenden Wohnungen, bis auf die großen Baracken, fertig und wenden uns an das andere Ufer des Winterhafens, wo auf dem Landstreifen zwischen Hafen und Donaukanal, im Augestrüpp versteckt, noch eine große Anzahl von Hütten liegt. Dort werden wir sehen, wie der «Kubikos» wohnt.» Hätten sich die Sanitätsbeamten darum gekümmert, dann hätten sie sich nicht erst am 13. August «die Mühe nicht verdrießen lassen», Kähne zu besteigen, um das andere Ufer zu gewinnen, sondern sie wären schon vor dem bösen Schmock, der sich genau eine Woche vorher dieselbe Mühe nicht verdrießen ließ, auf Entdeckungsreisen gegangen. Daß diese Hütten seit zirka anderthalb Jahren bestanden haben, ohne daß sich auch nur ein einziges Organ der Staatsbehörde oder des Luegerschen Magistrats darum bekümmert hat, ist leider nicht Phrase, sondern traurigste Wahrheit, eines der traurigsten Dokumente amtlicher Pflichterfüllung.

Doch kommen wir zu dem «authentischen Bericht» und seinen sonstigen Beweisen. Der authentische Bericht behauptet, daß seit Beginn der Bauten folgende Revisionen stattfanden:

1. Am 17. November 1898, gleich nach Beginn der Arbeiten auf Anzeige des Gewerbe-Inspektors. Man fand die «krassesten Uebelstände in Bezug auf die Unterkunftsstellen: Erdlöcher als Wohnungen, keine Anstandsorte, keine Brunnen, die Arbeiter tranken Donauwasser». Der Direktor der Allgemeinen Oesterreichischen Baugesellschaft, der den Bau an den Subunternehmer Mittelmann aus Preßburg übergeben und sich nicht weiter darum gekümmert hatte, wurde zu 200 Kronen Geldstrafe verurtheilt, und es wurden «Aufträge ertheilt, die sich auf die gründliche Abschaffung vorgefundener Uebelstände bezogen».

2. Unbekannten Datums. Die Baugesellschaft hatte die alten Erdhütten «gründlich» abgeschafft und dafür «entlang dem Bahngeleise, entgegen dem Verbot, neuerlich Erdhütten errichtet». Das Bezirksamt schreitet ein, die Baracken werden vermehrt, und von nun ab bleibt «das Augenmerk ständig auf diese Unterkunftsstätten» gerichtet. Der Direktor der «verjudeten Oesterreichischen Baugesellschaft», der den Luegerschen Magistrat so frech verhöhnte, wird diesmal nicht bestraft.

3. Am 25. April 1901. Das war eine lange Pause! Ein Todesfall an Dysenterie (Ruhr) lockte diesmal die eifrigen Herren hinab. Sie «entdeckten» einen Schlagbrunnen, das Wasser war zum Genuß geeignet. Den im Gebüsche verborgenen Brunnen, «der inmitten eines Tümpels eingerammt ist, dessen Wasser die Färbung einer Jauche hat und das schon mit freiem Auge sichtbare Lebewesen enthält», «entdeckten» sie erst am 13. August, nachdem ihnen ein Schmock der «Arbeiter-Zeitung» am 11. August zu diesem Brunnen den Weg gewiesen. Die Herren ließen sich am 25. April täuschen und konnten darum auch diesmal nicht den Direktor der «verjudeten Oesterreichischen Baugesellschaft» bestrafen.

4. Am 14. Juni. Die Baugesellschaft erhält neuerdings Aufträge, «besonders, daß in den Baracken auf den einzelnen Inwohner eine Bodenfläche von mindestens vier Quadratmetern und ein Luftraum von zehn Kubikmetern zu entfallen habe. Also auch in diesem Punkte bedurfte es nicht erst der Anregung der «Arbeiter-Zeitung».» Es ist schier unglaublich! Sogar die einfachsten Gesetze der Hygiene sind den magistratischen Sanitätspersonen bekannt, und sie «ordnen» ihre Beachtung an. Den Direktor der «verjudeten Oesterreichischen Baugesellschaft» läßt der Luegersche Magistrat aber wieder laufen, trotzdem er eine Reihe von Verbrechen begangen hat, «für die die «Arbeiter-Zeitung» die Behörden verantwortlich macht, trotzdem diese Verbrechen bei ihren Stammesbrüdern auf der Tagesordnung sind. Natürlich, dann heißt es schweigen, denn eine Krähe hackt der anderen nicht die Augen aus.» Also nicht der Magistrat, nein, der Direktor der verjudeten Gesellschaft ist der Verbrecher. Aber der Luegersche Magistrat straft den jüdischen oder doch verjudeten Verbrecher nicht.

5. Am 12. Juli 1901, Nachts. Die Gemeinderäthe Laßmann und Besau interpellirten am selben Tage über Mißstände beim Bau des Winterhafens, namentlich über die Ueberschreitung der Arbeitszeit, über zu geringen Luftzutritt in die Baracken, über das Schlafen eines Ehepaares unter 25 bis 30 männlichen Arbeitern, über die Feuergefährlichkeit und über den Mangel an ärztlicher Hilfe. Die Höhlenbewohner entdeckten auch diese beiden Herren nicht, auch nicht den Giftbrunnen. Der Bürgermeister Dr. Lueger fand daran «interessant», daß der der Interpellation beigeschlossene Arbeitsvertrag mit einem ungarischen Arbeiter in ungarischer Sprache ausgestellt war. Die daraufhin entsendete Kommission «überzeugte sich von der Richtigkeit der Thatsachen und veranlaßte die nöthigen Vorkehrungen zur Abhilfe». Der Direktor der verjudeten Gesellschaft wurde aber wieder nicht bestraft.

So die Sachlage nach dem authentischen Bericht, bevor wir unsere Studien anstellten. Das «Deutsche Volksblatt» macht uns den schmeichelhaften Vorwurf, warum wir, die wir doch ein Monopol auf Arbeiterschutz zu besitzen glauben, so fahrlässig waren, diese Zustände nicht schon längst aufzudecken. Das hat einen sehr einfachen Grund. Wir hörten von Zeit zu Zeit von magistratischen Vorkehrungen und hielten alle gelegentlichen Mittheilungen, daß nichts geschehe, für übertrieben. Erst als die Klagen absolut nicht verstummten, gingen wir daran, die Thätigkeit der staatlich-magistratischen Sanitätspersonen zu überprüfen. Da enthüllten wir das grauenhafte Bild, das nun die christlich-sozialen Arbeiterfeinde und Unternehmerfreunde so aus dem Häuschen bringt, daß sie sofort diesen oft zitirten Rechtfertigungsartikel veröffentlichten und die Kommission anordneten, wobei alle unsere Enthüllungen von amtswegen als richtig befunden wurden. Was die Kommission «entdeckte», ist das, was wir letzten Sonntag geschildert haben!

Wir sind mit unserem Erfolg zufrieden, nicht aber mit der Rechtfertigung der Sanitätsorgane. Diese Amtspersonen haben ihre Pflicht gröblich verletzt, indem sie sie einfach nicht erfüllten.

Am 17. November 1899 konstatiren sie «die krassesten Uebelstände»: Erdlöcher als Wohnungen, keine Anstandsorte, keine Brunnen, das Donauwasser als Trinkwasser, und schaffen sie «gründlich» ab.

Am 13. August 1901, das ist nach einundzwanzig Monaten, konstatiren sie, geführt von der «Arbeiter-Zeitung», Erdlöcher als Wohnungen, dabei keine Anstandsorte, einen Sumpfbrunnen mit jauchigem, von Lebewesen erfülltem Wasser, daher wieder das Donauwasser als Trinkwasser. Dazu überfüllte, von Ungeziefer starrende Baracken und sonst noch manchen «krassesten Uebelstand», Mißstände also, die schlimmer sind als die vor einundzwanzig Monaten «gründlich abgeschafften».

Am 15. August 1901 kommt dann das «Deutsche Volksblatt» und lobt den Eifer des Bezirksamtes über den grünen Klee, und sein ganzer Tadel besteht in dem einzigen Wörtchen: traurig. «Das ist das traurige Ergebniß eines Kampfes, den die Staatsgewalt gegen jüdische Großunternehmer zu führen gezwungen ist.» Das «Deutsche Volksblatt» hat Recht: Das Ergebniß des Kampfes ist traurig. Es ist traurig, daß die kommunale Sanitätsbehörde (und nicht die Staatsgewalt, wie das Blatt fälscht) in 21 Monaten nicht die Kraft hat, einen einzelnen Unternehmer zur Einhaltung der Gesetze zu zwingen; es ist traurig, daß das magistratische Bezirksamt von seinem Strafrecht keinen Gebrauch macht, dafür aber dann das «Deutsche Volksblatt» schreiben läßt: «Das Gesetz ist solchen jüdischen Aussaugern gegenüber zu schwach. Eine Geldstrafe von 200 Kronen, im Höchstausmaße von 800 Kronen zahlen diese Leute gewiß gerne, wenn sich dadurch tausende von Kronen ersparen lassen.» Das Blatt fügt hinzu: «Was sagt jetzt die «Arbeiter-Zeitung» dazu?

Wir wollen mit unserer Meinung nicht zurückhalten: Nicht das Gesetz ist zu schwach, sondern seine christlich-sozialen Hüter sind zu schwach. Der Beamte, der diesen Direktor der «verjudeten Oesterreichischen Baugesellschaft» so oft durchrutschen ließ, anstatt ihn die ganze Strenge des Gesetzes fühlen zu lassen, gehört in Disziplinaruntersuchung, denn er hat das Gesetz nicht respektirt und dadurch den Direktor der verjudeten Oesterreichischen Baugesellschaft und den jüdischen Subunternehmer Mittelmann so frech gemacht, daß sie den behördlichen Anordnungen zum Trotz ihre Verbrechen an der Gesundheit und an dem Leben der Hafenarbeiter und ihrer Familien fortsetzten. Der Strafsatz von 800 Kronen hätte vollkommen ausgereicht, die Strafe hätte nur entsprechend oft verhängt werden müssen.

Am 17. November wurde der Mann mit 200 Kronen bestraft. Da hätte man ihm zugleich unter neuerlicher Strafandrohung die Beseitigung dieser Zustände binnen acht Tagen auftragen müssen, und man hätte ihn am 25. November schon mit 400 Kronen (bei milder Behandlung) und in weiteren acht Tagen, am 2. Dezember, mit 800 Kronen bestrafen können. Wenn man diese Art, den Gesetzen Achtung zu erzwingen, nur zwei Monate lang fortgesetzt hätte, dann wäre der gute Direktor sehr bald mürbe geworden und er hätte so viel 1000 Kronen zu zahlen gehabt, daß er sich rasch entschlossen hätte, Ordnung zu schaffen. So aber ließen sich die behördlichen Organe höhnen und zum Besten halten, und anstatt den Bau ständig zu überwachen, machten sie im Verlaufe von 21 Monaten im ganzen sechs Revisionen sammt der letzten vom 13. d. und straften einen Unternehmer, der einen mit sechs Millionen Kronen budgetirten Bau durchführt, im ganzen mit 200 Kronen!

Da liegt der Hund begraben. Die vom Luegerschen Geist erfüllten Beamten haben keine Kraft gegen das «verjudete» und «jüdische» Unternehmerthum, insoferne es gilt, Arbeiter gegen dieses Unternehmerthum in Schutz zu nehmen. «Es sind ja «nur» Arbeiter, weniger als das: ungarische Wanderarbeiter, Arbeitsthiere, die wir schützen sollen, da werden wir uns doch nicht echauffiren! Kein Schade um das Gesindel. Man erfüllt seine Pflicht, wenn man alle heiligen Zeiten einmal nachschaut, einiges anordnet, sich aber dann nicht weiter darum kümmert.» Das ist der Gedankengang der bequemen Herren.

Das ist es, was wir dazu zu sagen haben! Daß uns das «Deutsche Volksblatt» dazu Gelegenheit gab, dafür besten Dank!

* * *

Eine Zuschrift der Baugesellschaft.

Die Allgemeine Oesterreichische Baugesellschaft ist schamlos genug, uns um Aufnahme folgender «Notiz» zu ersuchen:

Mit Bezug auf die in verschiedenen Tagesblättern enthaltenen, theils abfälligen, theils irrthümlichen Bemerkungen über angeblich sanitätswidrige Arbeiterwohnungen auf dem Freudenauer Hafenbauterrain werden wir um güthige Feststellung der Thatsache ersucht, daß die fraglichen Wohnstätten, in denen die Szegediner Arbeiter, die sogenannten «Kubiker», Unterkunft gefunden haben, den hier geltenden Bauvorschriften allerdings nicht zur Gänze entsprechen mögen, daß diese Wohnstätten aber nicht von der Allgemeinen Oesterreichischen Baugesellschaft, sondern von den Arbeitern selbst in der in ihrer Heimat üblichen Art errichtet wurden, daß ferner die sanitären Verhältnisse nicht nur unter diesen Arbeitern, sondern im ganzen Terrain des Freudenauer Hafens und zwar während der ganzen Bauzeit die denkbar günstigsten gewesen und, wie aus dem magistratischen Protokoll vom 13. d. nachweisbar, auch heute noch sind.

Zu bemerken ist übrigens noch, daß diese Bauten (Baracken) in Ungarn überall, selbst bei den Staatsbauten üblich, beziehungsweise gestattet sind.

Die diese Notiz begleitende Zuschrift zeichnet für die Direktion der Allgemeinen Oesterreichischen Baugesellschaft ein Herr J. Schandl. Wir glauben ihm wohl gern, daß solche «Arbeiterwohnungen» in Ungarn selbst bei Staatsbauten üblich sind, dies beweist aber nur, daß das Land mit der rückständigsten sozialen Gesetzgebung für uns kein Muster sein darf. Wenn die Baugesellschaft daraus die Berechtigung ableitet, auch hier nach ungarischem Muster zu wirthschaften, so ist dies nur aus den in dem obigen Artikel angeführten Gründen möglich. Auch alle übrigen Behauptungen dieser Zuschrift sind, so weit sie die Schilderung der skandalösen Zustände abzuschwächen versuchen, durch unsere beiden Artikel widerlegt, und wir können uns darauf beschränken, die Herren Schandl und Konsorten ausdrücklich aufmerksam zu machen, daß sie den heutigen Artikel als Antwort auf ihre Zumuthung ansehen mögen. Bei uns haben die Herren kein Glück.

 

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