Bibliographie Startseite

 

Max Winter

Wiener Straßenhandel

Eine Umfrage auf der Straße

Arbeiter-Zeitung Nr. 95 vom 7. 4. 1901

Jede Großstadt birgt merkwürdige Existenzen, von denen eigentlich niemand weiß, wie sie sich fortringen können. Jeder weiß, daß die Bissen schmal sind, die diese Menschen auf dem Tisch der Großstadt finden, manch Einer empfindet auch Mitleid mit ihnen, aber nur sehr Wenigen fällt es ein, hie und da noch einen Schritt weiterzugehen und die soziale Lage dieser Menschen zu erforschen.

In der Armee dieser Großstadtexistenzen bilden die Straßenhändler und Händlerinnen die größte, wenn auch völlig zusammenhanglose Gruppe. Einer weiß vom anderen nichts, oder nur soviel, als er gelegentlich erfährt, und jeder hat mit sich so viel zu thun, hat für sich so viel zu leiden, daß er vergißt, sich um das Schicksal des anderen zu kümmern. Zudem ist es ein recht zusammengewürfeltes Völkchen, das diese Gruppe bildet: Bosniaken, Italiener, Krainer, galizische Juden, Slowaken und Tschechen mühen sich zusammen mit Wienern und Wienerinnen, das Brot auf der Straße zu finden. Die Großstadt ist ein Magnet, der alles und alle anzieht. Jeder hofft, hier reichen Gewinn oder doch lohnenden Erwerb zu finden. Viele bleiben nur wenige Monate hier und sparen und darben, um dann einige Gulden in die Heimat mitzubringen, andere treiben ihren Handel nur über die schlimme Zeit und suchen dann wieder Arbeit als Taglöhner. Den wenigsten ist es ständiges Gewerbe, sondern höchstens nur ein ständiger Saisonerwerb.

So wenig nun der einzelne Straßenhändler von seinem zufälligen Nachbar weiß, trotzdem ihn die Interessengemeinschaft dahinführen sollte, sich auch um das Schicksal seines Nachbarn zu bekümmern, ebensowenig hat die große Oeffentlichkeit eine Ahnung von der sozialen Lage dieser Händler.

Im Nachfolgenden wollen wir einige dieser Großstadtexistenzen sprechen lassen. Sie selbst werden uns erzählen, wie es ihnen ergeht. Wir müssen sie nur zum Reden bringen.

*

Der Maronibub an der Museumecke in der Babenbergerstraße ist der erste, der uns Aufschluß gibt. Während er uns um 3 kr. gebratene Haselnüsse in die Düte zählt – die Maronizeit ist schon vorüber –, erzählt er uns von seinen – Freuden. Leuchtenden Auges erzählt er in gebrochenem Deutsch, daß seine Zeit zu Ende geht. Am Montag ist er schon wieder in Laibach. «No vier Täg, und dann is aus!» Es war in den letzten, heuer so rauhen, winterkalten Märztagen. Am 1. April läuft sein Kontrakt ab, der ihn vom 1. Oktober ab verpflichtete, und dann vertraut er seinen Leib der Südbahn an, die ihn nun schon sicher ans Ziel gebracht haben dürfte. Sonntag Nachmittags rüstet er ab, trägt den Bratofen, an dem er seit 1. Oktober gesessen, wieder zu seinem Herrn, nimmt seinen Lohn in Empfang und geht, sein Binkerl am Arm, von dannen. Schnurstracks auf den Bahnhof und heim zu Muttern. Das alles kann nicht seine Zunge reden, aber seine leuchtenden Augen sagen es, nachdem er sich von dem Staunen darüber erholt hat, daß sich plötzlich jemand um ihn kümmert. Den ganzen Winter über hatte kein Mensch von ihm, sondern nur von den Maronis und Braterdäpfeln mit ihm gesprochen. Ein breites Lachen geht über seine vollen Backen, als er gebrochen den Satz herausstößt: No vier Täg, und dann is ’s aus!

Dann ist die Qual am Bratofen zu Ende, das Sitzen an der zugigen Ecke, dann freilich auch das wunderbare Getriebe der Großstadt, in der er, der weltfremde Krainerbub, so viel gesehen hatte. Die stolzen Paläste, die feingeputzten Damen, die Herren im Pelz, die hellerleuchteten Geschäfte, die kostbaren Waaren in den Auslagen, die er oft begehrend geschaut, die eleganten Wagen – einer hätte ihn einmal beinahe umgestoßen, als er mit seiner Butte heimwärtsstrebte – und all das andere Herrliche, Sinnverwirrende, das er den Winter über geschaut hat. Davon wird er erzählen, nachdem er Muttern das Geld hingezählt hat, das er in Wien erworben. Sechsunddreißig Gulden Lohn in sechs Monaten bekam er, dazu Quartier und Kost, vielmehr Kostgeld – 20 kr. im Tag – da mußte er ja als gemachter Mann zurückkehren. Die Mutter kann nun wieder eine Ziege kaufen und zwei Sack Kartoffeln zum Anbauen, und noch bleibt ihm ein Stück Geld, für das er sich neue Stiefel kaufen kann oder vielleicht gar einmal eine Weste mit silbernen Knöpfen. Wer weiß, was für Freuden der Sommer bringt. Er verstand es, den Winter über zu sparen. Keinen Kreuzer Vorschuß nahm er sich auf den Lohn, der ihm am 31. März unverkürzt ausgezahlt werden muß. Und dann war er den ganzen Winter über aus dem Brot. Seine Mutter konnte also Freude an dem Jungen haben.

Was er sich um die 20 kr. im Tag kaufte? Brot, Suppe, Gemüse. Gebratene Erdäpfel durfte er von dem anvertrauten Gut nehmen – er konnte also täglich satt werden. Daheim hätte er kaum so viel bekommen. Er wird im nächsten Herbst wieder das Fahrgeld daranwagen, vielleicht glückt es ihm wieder, so gut unterzukommen.

An der Museumsecke ist es zwar kalt – aber was schadet es – im nächsten Jahre bekommt er vielleicht schon 7 fl. im Monat Lohn – da kann er sich dann die Weste kaufen. Da er wegzieht von seinem Herrn, schließen sie den Handel gleich ab.

*

Der Maronimann und seine Frau, die auch bei einem Ofen sitzt, sind froh, wenn sie ein paar ordentliche «Knechte» haben, wie sie die Buben nennen. Am liebsten nehmen sie Krainer. Die sind ehrlich, sie liefern ab, was eingeht, und sie sind genügsam. Das Geschäft geht ohnehin schlecht genug. 24 Kronen Steuer per Ofen. Jedem Knecht 80 Kronen über den Winter. Dazu 36 Kronen Miethe im Monat für Zimmer, Kabinet und Küche (Mutter, Vater und vier Kinder schlafen im Zimmer, die vier Knechte im Kabinet), endlich die Maroni theuer und schlecht, dazu noch die allgemeine Ungunst der Zeit – es gehen dreimal soviel Erdäpfel als Maroni ab –, da muß der Unternehmer schon tüchtig sein, wenn er alle seine Verpflichtungen erfüllen will. Sechs Oefen sind 144 Kronen Steuer, vier Knechte bekommen 320 Kronen Lohn, dazu sechs Monate das Kostgeld, wieder 320 Kronen, und der tägliche Gewinn eines Ofens macht 1 Krone 60 Heller bis 2 Kronen, da kann man schon rechnen, wie viel dem Maronibrat-Unternehmer für seine und seiner Frau Arbeitskraft, für seine Sorge und an Profit bleibt. Im Durchschnitt von 1 Krone 80 Heller täglichem Gewinn gerechnet, wirft ein Ofen im Monat 54 Kronen ab, in den sechs Monaten 324 Kronen, und alle sechs Oefen 1944 Kronen. Davon gehen 788 Kronen für Steuer, Lohn und Kostgeld ab, und 8 Kronen per Monat oder 48 Kronen im Halbjahr für die Mehrauslage an Miethe, zusammen also 836 Kronen. Dem Manne, der in sechs Monaten 144 Kronen Steuer zahlt, bleibt eine Einnahme von 1108 Kronen in sechs Monaten oder von 185 Kronen im Monat. Für diesen Preis muß seine Familie zwei volle Arbeitskräfte stellen. Rechnet man noch die Ofenreparaturen, die alle Jahre nöthig werden, ab, so entfallen auf die Arbeitskraft sammt der Verzinsung des kleinen Kapitals kaum 90 Kronen im Monat. Dies aber nur dank der Ausbeutung von vier Krainerbuben, die es in ihrer Genügsamkeit gar nicht empfinden, wie hart, wie grausam ihr Los ist.

*

Der Sodawasserverkäufer löst den «Maronimann» ab. In der Zeit von Mitte März bis zu Anfang April kann man beide in den Straßen finden. Beide mit trüben Gesichtern. Für den Maroniverkäufer ist es schon zu spät, für den Wassermann noch zu früh zum Geschäft, für den einen schon zu warm, für den andern noch zu kalt. Dennoch sind beide am Platze. In den ersten warmen Frühlingstagen wandert der Bratofen auf den Boden und der Wasserwagen wird aus dem Schupfen gezogen, gewaschen, vielleicht auch lackiert, und am nächsten Morgen fährt der Maronimann mit dem Sodawasserwagen aus. Man muß nämlich wissen, daß das Sodawasser dem Maronimann im Sommer den Erwerb gibt, der nicht höher ist als der beim Bratofen, weil ein größeres Kapital erforderlich ist und er also nicht soviel Burschen verwenden kann. Hat der Mann drei Wagen in seinem Besitz, so ist es schon viel. Zwei davon besorgt die Familie, für einen Wagen hat er einen «Knecht» gemiethet, der die sechs Sommermonate über zu den gleichen Bedingungen arbeitet wie der Maronibub den Winter über: 80 bis 100 Kronen Lohn, Kost und Quartier.

Der Wagen liefert bei gutem Geschäftsgang, das heißt bei großer Hitze, drei Kronen im Tag Gewinn. Die Losung muß dann etwa zehn Kronen betragen. Das Sodawasser beziehen die Straßenhändler von den Fabrikanten. Für den Zylinder zahlen sie 1 Krone 40 Heller bis 1 Krone 60 Heller, sie schenken etwa um 6 Kronen daraus. Die Steuer ist ebenso unverhältnismäßig hoch wie für das Maronigeschäft.

Die Regierung bringt dem in diesen Tagen in Wien beginnenden Antialkoholkongreß große Aufmerksamkeit entgegen. Hohe Beamte werden an den Berathungen theilnehmen. Die Verwaltungs- und die Strafbehörden wünschen, daß ihr Kampf gegen den Alkohol ernst erscheine. Wenn sie sich mehr damit beschäftigen werden, dann werden sie sehen, daß mit Verordnungen und Gesetzen auf diesem Gebiete wohl das wenigste auszurichten ist. Die Gelegenheit macht Säufer, aber auch – Abstinenten. Wie schwer es ist, von der Kneipe loszukommen, schildert ein sehr belehrender Artikel im letzten Heft der Berliner «Zukunft». Schwer ist dies darum, weil kein brauchbarer Ersatz für die Kneipe geboten wird. Der Verfasser fordert unter anderem die Begünstigung von Trinkhallen. Wie wär’s, wenn die österreichischen Behörden den Straßenhandel mit alkoholfreien Getränken, Obst etc. durch große Steuererleichterungen begünstigen würden? Sie würde der Bewegung gegen den Alkohol durch diese und andere Maßregeln dieser Art mehr nützen als durch Erlassung strenger Gesetze, die ja doch umgangen werden, so lange nicht mannigfacher Ersatz für die Kneipe geboten ist.

*

Schöne Luftballon, gnä Frau! Nehmen’s der Klan’ an! Was den für an? An’ rothen? Oder an blau’n mit an Bild – zwölf Kreuzer, gnä Frau!» Während sie so die Kundschaft anlockt und zugleich das Geschäft abwickelt, nestelt die Luftballonhändlerin einen Kinderballon von dem Bund los, nimmt, um die Hände freizubekommen, den Strick, an dem der Bund hängt, zwischen die Zähne und knüpft an das kurze Endstück des Bindfadens ein meterlanges Schnürchen, dessen anderes Ende sie an einem Knopf des Mäntelchens der kleinen Kundschaft befestigt. Der Ballon soll nicht zu bald Reißaus nehmen. «So, mein Herzerl!» Das Geschäft ist perfekt.

Die Frau hat fast immer Zuseher, namentlich an den ersten Frühlingstagen, da ihre luftige Waare den Kindern wieder neu ist, hängen begehrende Kinderaugen an jeder ihrer Bewegungen. Für die Kinder ist dies wohl das interessanteste Straßengeschäft. Wenn sie der Luftballonfrau erst einmal hinter die Coulissen schauen könnten, wie sie, an ihrem Arbeitstisch sitzend, die rothen, grünen, weißen, blauen, bemalten und unbemalten großen und kleinen Bälge über einen Flaschenhals zieht, aus dem das Wasserstoffgas unsichtbar zur Höhe steigt, den Bauch der kleinen, runden Dingerchen füllend, den Balg straff spannend. So eine Luftballonfrau ist eine kleine Chemikerin. In einer Flasche mit seitlichem Eingußrohr erzeugt sie sich das Wasserstoffgas selbst, das sie zum Füllen der Ballons benöthigt. Wasser und Schwefelsäure auf Zink gegossen, lassen das Gas frei werden, das leichteste, das man kennt. Ist der Ballon zum Bersten rund, dann wird er rasch abgebunden und mit dem Endstückchen Hanfzwirn an dem Bund befestigt. Auf Vorrath kann die Ballonfrau nie arbeiten. Sie ist eine Sklavin des Wetters. Nur bei schönem Wetter geht ihr Geschäft. Bringt sie nicht alle Ballons an, dann trifft sie schwerer Schaden. Der einmal benützte Balg hält, wenn er einschrumpft, selten eine zweite Füllung aus. Er zerreißt. Schon bei der ersten Füllung finden ja viele Ballonhüllen dieses Ende. Darin besteht das Risiko dieses Geschäftes. Jede Luftballonfrau muß zugleich eine Wetterprophetin sein. Regen und Kälte ruiniren die runden Dingerchen, und sie verliert dann ihr Geld und den Lohn für ihre Arbeit.

Ein Schock Ballonhüllen kostet je nach Qualität und Größe 9 bis 12 Kronen. Das Gas kostet etwa 40 Heller – manche verwenden Leuchtgas zur Füllung -, auch das Garn kostet einige Heller, dann die Steuer und der Verlust durch das Einschrumpfen und Platzen der Ballons, die Abhängigkeit vom Wetter, kann da ein größerer Durchschnittsverdienst als eine Krone im Tag herauskommen, wenn auch der Ballon 20 bis 40 Heller kostet? «Es is net zum Leben,» sagte mir die Ballonfrau bei der Mariahilferkirche, «es is nur, daß m’r a das Seinige beitragt, und dann wegen der Luft. Mir thuats heraust guat!» Dabei weist sie auf ihre Brust. «Siebz’g, achtz’g Kreuzer im Tag, da muaß guat gehen.» – «Und wenn’s regnet?» – «Da hab’n m’r gar nix.»

Der Luftballonfrau muß man also viel Glück und «a schön’s Wetter» wünschen, wenn man ihr wohl will. Beides braucht sie.

*

Ansichten von Wien, mein Herr! Osterkarten! Vier Stück zehn Kreuzer. – Was verdienen Sie denn an dem Zeug? – Was soll ich verdienen, Herr? Zwanzig Perzent. Es ist nichts zu verdienen bei dem Geschäft. Achtzig Kreuzer, a Guld’n im Tag. Ja wenn die Fremden da sind, so Mai, Juni, da geht a biss’l a Geschäft, aber sonst stehn sie da, von Früh bis Abend – kaum, daß sie zum Leben verdienen. – Haben Sie Kinder? – Viere hab’ ich, Herr, viere! – Wohin gehen Sie denn essen? – Essen? Ich ess’ erst am Abend. Zu Mittag kauf’ ich mer a Milch ... da vom Kaffeehaus, und a Brot. – Was haben Sie denn für eine Wohnung? – Zimmer und Küche. – Und Sie zahlen Zins? – Dreizehn Gulden in an Monat. Ich hab’ aber Zimmerherr’n. – Wie viele? – Vier wohnen im Zimmer, se zahl’n mer zehn Guld’n a Monat; ich schlaf’ mit meiner Familie in der Küche. Mei Zins is drei Guld’n. – Verdient Ihre Frau etwas? – Sie thut nähen. Sie plagt sich schwer, Herr, von Früh bis Abend, und bis in der Nacht herein. – Was verdient sie? – Wie sie kann, Herr, sechzig, achtzig Kreuzer, a Guld’n ... Ich kann nicht mehr stehenbleiben, Herr, der Inspektor ...

Auf der anderen Seite des Grabens war ein Polizei-Inspektor erschienen und wendete sich nun herüber. Der einbeinige Ansichtskartenhausierer wendet sich zum Gehen. Er humpelt über das Trottoir und bietet seine Karten feil, die er fächerartig arrangirt in der Rechten hält. Seine Hausierkiste, die er an einem Tragriemen hat, ist vollgepropft. Abends geht er dann in die Seitenstettengasse zu dem Händler verrechnen. Dann humpelt er nach Hause, in die Küche, die ihm, seiner Frau und seinen vier Kindern das Heim erstzen muß.

*

Das Familienleben des «Gebäckshausierers». Der kleine, dicke Gebäckshausierer mit dem aufgedunsenen Gesicht, der Sommer und Winter den hungrigen Menschenmassen mit seiner Brotwaare nachgeht, zu Stunden starken Verkehrs auf dem Stefansplatz, zur Zeit der Burgmusik auf dem Michaelerplatz mit seinem «Geschäft am Bauch» umhertanzt, nimmt sein Elend nicht tragisch. Mit seinen 20 Perzent verdient er 1 Krone 40 Heller bis 1 Krone 60 Heller im Tag, oft nicht einmal so viel. Die unverkaufte Waare nimmt der Bäcker zurück. Seine Familie kann er nicht erhalten. Mir freudigem Stolz erzählt er von seiner Alten, die schon achtzehn Jahre «Laufmädel» bei einem Blumenmacher ist. Sie hat 20 Kronen Monatslohn und die Kost. «Achtzehn Jahr’ is s’ schon durt. Habe die Ehre ...» dabei zieht er tänzelnd seinen Hut, Jahrgang 1882. «Achtzehn Jahr’, sie geb’n s’ a net weg. Ja wenn sie net war, so hätt’ m’r net amal am Vogel was, no weniger für uns. Habe die Ehre ...» Wieder tänzelt er vor mir.

Die beiden haben ein Kind, einen achtjährigen Buben – sie haben ihn bei fremden Leuten in der Kost, damit sie selbst ungehindert ihrem Erwerb nachgehen können. An Kostgeld zahlen sie 10 Kronen im Monat. Ueber Mittag geht der Mann zum Greisler, oder er kauft sich in der Volksküche eine Zuspeise – Abends kocht er zu Hause, damit seine Frau, die um halb 10 Uhr heimkommt und um halb 7 Uhr früh das Haus verläßt, noch ein warmes Mahl vorfindet. Daß er ein Hundeleben führt, empfindet der Mann gar nicht.

*

«Gengan S’ her, gnä’ Herr, schöne Veigerln g’fällig? Was denn, gnä’ Herr, an Goldlack? Veigerln? Dös san italienische, und dös san riacherte, hiesige ... Dö Anemonen? Dö san schön, gnä’ Herr, dreiß’g Kreuzer a Buschen, san mit lange Stengeln ... Nehmen S’ der gnä’ Frau was mit ... » So und ähnlich preist die Blumenfrau am Graben oder in der Kärntnerstraße – eine der Vielen – ihre duftige Waare an. Sie hat sie, auf Rohrstäben ohne Draht gebunden, in ihrem großen Flachkorb mit erhöhtem Rand, zum Kaufe einladend, fast künstlerisch arrangirt.

Sie ist eine Wittfrau. Ihr Stefferl, ein elfjähriger Bub, ist ihre größte Sorge. «A Reißteufel is er. M’r waß gar net, wo m’r s’ G’wand herschaffen soll. Aber g’sund is er, das is die Hauptsach’ und stark wird er. Mei ältester Bua is bei die Pflasterer ... der is erscht stark.» – «Also was für die Athleten?» warf ich ein. «Is er bei an Klub?» – «Net amal denken. Dann thuat er si amal was, und i hab’s Nachseg’n. Er hätt’ eh woll’n, i hab’s ihm aber austrieb’n. Der soll schau’n, daß ’r si urndli’ d’rhalt, so Tanz’ kenn’ m’r net.» – «Gibt ’r was her z’Haus?» – «A, er is ja net bei mir, is ja in Erdberg unt’. A Arbeiter kann heutingtags nix hergeb’n. Na, so lang i g’sund bin, braucht ’r ’s a net. So viel tragt’s no allerweil, daß d’r Stefferl, i und der Mittlere z’essen hab’n.»

«Was verdienen S’ im Tag?»

«Das is sehr verschieden, gnä’ Herr, zwa, drei Guld’n hab’ i a scho verdient, aber a nur fünf Sechserln mannigsmal, und ganz abrennt san m’r a scho. Wann’s recht kalt is, da is schlecht mit d’r Waar’. Da d’rfriert’s, und wann’s haß is, dann gengan s’ so z’grund. Die beste Zeit is halt jetzt im Fruajahr, wann’s Wetter schön is. Mannigsmal muaß m’r ’n ganzen Korb ’n Kranzelbinder geb’n. Auf Kränz’ geht’s no, die Waar’, aber so is’s nix mehr. Da hab’n s’ dann an Schad’n.»

«Ah, der gibt Ihnen weniger?»

«So viel Sechserln, als sö Guld’n für d’ Waar’ ausgeb’n hab’n. Da haßt’s dann, besser wia nix.»

«Wo essen Sie denn?»

«Auf der Gass’n; der Dienstmann holt’s uns. – «Ja, aber Sie dürfen ja nicht steh’n bleib’n.» – «Das kommt auf’n Wachmann an. Es gibt scho stiere d’runter, die an a beim Essen umanand jauken. Manche möchten am ja a Ruah lass’n; aber sie können a net, wia s’ woll’n. Dann kummt da Inspektor und fahrt drein, und dann fahrt halt der Wachmann a drein. Nothwendi war’s ja net. M’r därf si net anlahna, net beinand soll m’r steh’n – mein Gott, unseran wird a der Tag lang.»

«Da san S’ ja dann net harb, daß i mi so lang am Tratsch herg’stellt hab?» – «Aber net amal denken.» – «Also adje, nix für ungut.» – «Net amal in dreiß’g Jahr. Küß’ d’ Hand, gnä’ Herr.»

*

Der Orangenhausierer ist unter den Bedürfnißlosen der Bescheidenste. Zwiebel ist seine Nahrung, das Massenquartier seine Wohnung. Es ist der geborene Massenquartiermensch. Sein Tagesverdienst beträgt 60, 80 Heller, 1 Krone. Seine Waare kauft er am Naschmarkt. 30, 40 Kilo schleppt er am Morgen weg, und die muß er auch verkaufen, wenn er auf seinen Tagesverdienst kommen will. Er wohnt mit sechs, acht, zehn, zwölf Schicksalsgenossen in einer Stube unter der Erde. Seine Frau mit ihm – und dazu andere Weiber, andere Männer. Das liegt alles durcheinander. Männer und Frauen, Matronen und Jünglinge, Greise und erst aufblühende Menschenknospen. Dazwischen Körbe und Säcke, Kisten und Fässer, Zwiebel und Orangen ... Furchtbarer Dunst lagert darüber – es ist ein thierisches Leben, das diese armen Menschen führen. Die Wochenmiethe, die er für diesen Unterschlupf zahlt, beträgt eine Krone. So ein Massenquartierunternehmer hat also die beste Einnahme. Er bekommt unter Umständen 60 Kronen monatlich für ein Zimmer, wofür er selbst keine 20 Kronen Miethe zahlt. Daß ihn das bissel Stroh, das er den «Krowoten» als Bett bietet, keine 40 Kronen im Monat kostet, kann sich jeder selbst berechnen.

Die «Krowoten» sind indes froh, in der Millionenstadt so billig wohnen zu können. Und da sie gar nicht verwöhnt sind, empfinden sie es nicht, wie tief unter dem menschlichen Niveau sie leben und hausen.

*

Der «Würstelmann» sei der letzte in der Reihe. Was ist doch aus dem alten Wiener Würstelmann binnen wenigen Jahren geworden? Früher rückte er bescheiden mit Kessel und Zöger aus, stellte sich an eine Ecke und hatte Zulauf. Seine 20, 25 «Bandln» verkaufte er Nacht für Nacht, er verdiente an den Würsteln, am Brot und am Schnaps, den er damals noch ausschenken durfte – heute bekommt nur die verläßliche Stammkundschaft verstohlen ihr Stamperl –, und am Morgen wanderte er leichtbepackt nach Hause. Er hatte sein bescheidenes, aber immerhin sein Geschäft gemacht. Zwei Gulden waren Nacht für Nacht leicht zu verdienen. Und heute? Heute gibt es keinen Zöger mehr und keinen Handkessel, die Zeit der Automobile hat auch den Würstelmann gezwungen modern zu sein. Er zieht heute mit einem fahrbaren Kessel, der als Lokomotive montirt ist, auf seinen Standplatz, den er von 9 Uhr Abends bis 5 Uhr Früh behauptet. Aber sein Verdienst ist nicht reicher geworden. Wenn er für die sieben Nächte der Woche 18 bis 20 Kronen Verdienst heimträgt, ist er froh, dann kann er mit seiner «Alten» glücklich leben, umsomehr, da auch sie ihren Verdienst hat. Sie ist Büglerin und bringt auch ihre paar Gulden in der Woche heim.

Freilich, eine böse Seite hat die Arbeit der Frau schon. Sie kann ihm niemals Frau sein. Er geht um 8 Uhr Abends vom Hause weg und kommt um 5 Uhr Früh heim; sie geht um 6 Uhr Früh weg und kommt um 7 Uhr Abends heim. So sieht er seine «Alte» nur zwei Stunden im Tag – am Morgen eine, wenn sie geschäftig forthastet und er müde ist, und am Abend eine, wenn seine Zeit gemessen ist und sie abgemüdet und abgeplagt heim kommt. Das Familienleben kann dabei nicht gedeihen, aber sie haben wenigstens zu essen: sie in einem Wirtshause bei der Büglerei, er von einem Wirtshaus in der Nähe der Wohnung. Er ißt während der Schlafenszeit. Um 12 Uhr weckt ihn die Hausbesorgerin mit dem Essen, er ißt und schläft dann bis 3, 4 Uhr weiter. Dann geht er einkaufen, putzt seinen Wagen, reinigt die Kessel und bereitet das gemeinsame Nachtmahl vor.

Zu holen ist auch mit den heißen «Würsteln» nichts mehr. Er zahlt zwar das «Bandl» (4 Paar) nur mit 30 Heller und verkauft es um 48 Heller, und auch aus einem Laib Brot schneidet er gut das Doppelte heraus, aber dennoch ist er froh, wenn er 3 Kronen per Nacht verdient. Auch andere, die nur 24 Heller für das «Bandl» zahlen, kommen nicht höher. Nur Samstag, Sonntag – die Drahrertage des «Volkes» – geht das Geschäft ein wenig besser.

Im großen und ganzen gilt auch vom modernen «Würstelmann», der um 300 Kronen eine Lokomotive hat, das, was er selbst vom ganzen Wiener Straßenhandel zu mir sagte: «Ich weiß, wie viel’s g’schlagen hat. Das ganze Glumpert is nix mehr werth, was von der Straßen lebt.»

Max Winter.

 

Bibliographie Startseite