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Max Winter

Gemarterte Kinder

Arbeiter-Zeitung Nr. 33 vom 2. 2. 1901

Wieder einmal ist die ganze Oeffentlichkeit durch einen Prozeß aufgerüttelt, der einem Ehepaar gemacht wurde, das sein Kind zu Tode quälte, und wieder einmal schickt sich die menschliche Gesellschaft an, ihr Rächeramt zu erfüllen, ohne dem Uebel an die Wurzel zu gehen.

Ein blühendes Menschenkind ist hingemartert, langsam zu Tode gequält, vielleicht endlich durch einen barmherzigen Streich hingestreckt worden – der eigene, leibliche Vater ist des Mordes an diesem Kinde schuldig befunden worden, die Mutter, die ihm unter Schmerzen das Leben gegeben, ist entfernt mitschuldig erklärt worden, daß demselben Kinde wieder das Leben genommen wurde. Nehmen wir an, der Spruch der Geschwornen war der allein weise und gerechte, nehmen wir an, daß nicht nur das beleidigte Gefühl zu Gericht saß, sondern auch der klare, kalte, abwägende Verstand – was war das Ergebniß? Zwei Schuldige wurden getroffen, aber die trübe Quelle dieser Schuld quillt weiter, aus dem Boden der Gesellschaft, in der wir alle leben.

Die soziale Schuld wurde nicht erkannt und nicht getroffen!

Der kleine Pepi Ott, der so qualvoll enden mußte, war er das Kind der Verurtheilten? Ja und nein. Er war leiblich ihr Kind, aber die Liebe der Eltern flog ihm nie zu, weil sie ihm bei dem zweifellos wenig geläuterten sittlichen Empfinden der Eltern nicht zufliegen konnte. Seelisch war er nie ihr Kind. Sie empfanden es immer als Last, daß dieses Menschenkind zum Leben erwacht war, und mußten es als Last empfinden. Er war die Frucht eines Liebesrausches, einer leidenschaftlichen Stunde vielleicht nur, und brachte durch sein Dasein viel Leid über seine Erzeuger. Im Findelhause geboren, der mütterlichen Sorge sofort entrissen, nach Böhmen in Kost gebracht – wie konnte da in der Mutter das mütterliche Gefühl aufkeimen, wachsen? Dann heiratete sie den Vater, und nun mußten sie den «böhmischen Jungen» nehmen. Er war ihr Kind und sah sie doch zum erstenmal als herangewachsener Junge; er war ihr Kind, aber als er den Eltern einen Gruß entbot, verstanden sie ihn nicht, weil er durch die Schuld der öffentlichen Fürsorge zu tschechischen Pflegeeltern gekommen war, die das Kinderaufziehen billiger besorgen; er war das Kind dieser Eltern, aber ihre Herzen flogen ihm nicht zu. Den Elternherzen war er stets fremd, und nun, da er ein Vermehrer der Sorgen wurde, sollte er plötzlich die Herzen gewinnen?

Das war der soziale Untergrund, dem die Tragödie dieses Kindes entsproß. Es mußte nicht zur Tragödie führen – oft gehen solche Experimente besser aus –, aber es konnte ein tragisches Ende nehmen, und das mußte die menschliche Gesellschaft voraussehen, wenn sie dann das Recht, zu rächen, zu strafen, für sich in Anspruch nimmt.

Dieselbe Ordnung, in deren Namen die beiden Angeklagten verurtheilt wurden, dieselbe Ordnung sprach sich selber frei und scheute sich, dem Uebel an die Wurzel zu gehen!

Das ist heutzutage schon einmal so: Die Wirkung ist greifbar, die Ursachen liegen tief – darum sehen die Hüter der Ordnung nur die Wirkung, fragen aber nicht nach den tiefsten Ursachen; sie fragen danach nicht, weil sie dann diesen Ursachen zu Leibe gehen müßten, weil sie dann gegen die Ordnung, die sie vertheidigen und hüten, Zeugnisse finden würden, die diese Ordnung als eine schlechte erscheinen lassen.

Der Fall Ott ist ein vereinzelter, wird man vielleicht sagen. Sehen wir zu.

Die Kinderschutz- und Rettungsgesellschaft, die unter dem Einfluß der Kindertragödien, die sich an die Namen Hummel und Kutschera knüpfen und dank dem kräftigen Anstoße, den eine tapfere Menschenfreundin, Fräulein Lydia von Wolfring, gab, gegründet wurde, rettete bisher 26 Kinder.

Blättern wir ein wenig in den Protokollen dieser Gesellschaft, sehen wir die gerichtlichen Beilagen der Akten durch, und wir werden sehen, daß trotz der äußerst dürftigen Belege für die tieferen Ursachen aller Kindermißhandlungen diese tieftraurigen Erscheinungen nur dort zu Tage treten, wo Noth, Elend, Verkommenheit und Mangel an Bildung heimisch sind. Die Gewissenlosigkeit an sich ist nur in einigen Fällen Mithelferin.

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Der Sohn des Oberlieutenants. Da ist gleich der erste Schützling der Gesellschaft, der kleine Oskar, der Sohn einer Taglöhnerin und eines Oberlieutnants. Das Kind einer leidenschaftlichen Stunde, die der Vater nicht theuer bezahlen wollte und es darum vorzog, von sich nichts mehr hören zu lassen. Der Mutter blieb die Last und Sorge, die doppelt große Last, da das Kind schwach, kränklich und verkrüppelt war. Später heiratete sie eine Bauarbeiter, der das Kind mit übernahm. Dann kam aber die Zeit der Arbeitslosigkeit. Das Kind wurde schlecht ernährt, sonst lieblos und schlecht behandelt und häufig geschlagen, bis sich der Vormund seiner annahm. Zu ihm sagte die Mutter: «Ich mag den Buben überhaupt nicht.» Warum? Diese Frage unterblieb, aber es wird sie jeder beantworten können, der die Geschichte des Kindes kennt.

Die tiefere Ursache ist hier soziale Noth, gepaart mit Gewissenlosigkeit.

Der Knabe ist heute auf Kosten der Gesellschaft im Seehospiz zu San Pelaggio in Pflege.

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Unkontrolirte Pflegeeltern. Der Adjunkt eines mährischen Bezirksgerichtes wendet sich in einem Privatbrief an die Gesellschaft, um den kleinen Alois zu retten, der als Sohn eines Wiener Dienstmädchens bei deren Verwandten in einem mährischen Dorf in Pflege ist und so behandelt wird, daß Rücken, Kopf und Gesicht mit Narben bedeckt sind. «Der Anblick des Körpers,» schreibt der richterliche Beamte, «und die Schilderung des Kindes, was es zu leiden hat, machten auf die Zeuginnen einen derartigen Eindruck, daß sie alle zu weinen begannen.»

Der Verein übernahm das Kind sofort und brachte es zu der Frau eines Sicherheitswachmannes in Sievring in Pflege, bei der seither eine ganze Kolonie mißhandelter Kinder untergebracht wurde. Die Kinder gedeihen alle prächtig.

Die Mutter, das Dienstmädchen, leistet dem Verein dafür eine freiwillige Entschädigung. Die Pflegeeltern zu kontroliren, dafür fehlte ihr Zeit und Geld.

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Die Tragödie des «kleinen Mannes». Ein zugrunde gehender Wiener Schneidermeister zieht mit seinen beiden Kindern – fünf und sieben Jahre sind sie alt – von Schänke zu Schänke und wird wiederholt Nachts betrunken mit seinen Kindern aufgegriffen. Wachleute erstatten die Anzeige. Er wurde wegen körperlicher Beschädigung der Kinder verurtheilt und die Kinder ihm abgenommen. Sie gedeihen. Der Vater ist für sie verschollen. Die Mutter todt.

Dann zwei Kinder. Sie haben dieselben Eltern. Jedes hat einen anderen Namen, weil eines nicht in die Ehe geschrieben wurde – aus Faulheit, Indolenz – oder weil es Geld kostet. Wer weiß es? Mißhandelt werden beide. Der Vater ist Schustermeister, Witwer, Trunkenbold. Mit dem Knieriem arbeitet er nur, wenn er die Kinder prügelt. Dann jagt er sie hinaus in Nacht und Nebel, halbnackt und hungernd, wie sie sind. Oft greift sie die Polizei auf und übergibt sie immer wieder – dem Trunkenbold. Endlich wird die Hilfe der Gesellschaft angerufen. Die Kinder sind gerettet.

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Die Stiefmutter. Der eigene Vater kommt zum Verein und bittet, sein Kind zu retten. Als Hausbesorger und Arbeiter verwitwet, braucht er ein Weib zur Hilfe. Sie mißhandelt sein Kind, als sie sich selbst Mutter fühlt, und benützt es als Geisel, daß er sie eheliche und dadurch ihr Kind legitimire. Er packt endlich das Kind und übergibt es der Gesellschaft, der er monatlich 10 fl. für das Kind zahlt. Und die Stiefmutter? Die wird er ehelichen. Davonjagen wäre wohl das Gescheiteste, aber er kann nicht – doppelt Alimente zahlen. Er nimmt das Kreuz auf sich.

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Das Kind einer Epileptikerin, einer siechen Proletarierin, die sich als Witwe so lange mit ihren beiden Kindern durchgeschlagen hat, so lange sie konnte, ist das nächste. Als die Mutter nicht mehr arbeiten konnte, übernahm die ältere Schwester – eine fünfzehnjährige – die Sorge für die Familie. Im Anfang ging’s. Sie verdiente als Hilfsarbeiterin 3 fl. wöchentlich, dann wurde sie arbeitslos, die Mutter spitalsbedürftig und das jüngere Schwesterl ein Bettelkind. Endlich schritt die Vormundschaftsbehörde ein. Das Kind bekam der Verein, die Mutter kam als zuständige Wienerin in das Versorgungshaus, die ältere Schwester nahm einen Dienstplatz an.

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Die Feindschaft der Eltern. Eine katholische Ehe, gerichtlich geschieden. Beide Theile suchen und finden Ersatz – im Konkubinat. Eine Wiederverehelichung schließt die unduldsame österreichische Ehegesetzgebung aus. Beide Theile machen ihr Recht auf die beiden Kinder geltend, beide Theile suchen die Kinder für sich zu gewinnen. Der Vater hetzt gegen die Mutter, die Mutter gegen den Vater, der die Kinder schließlich züchtigt, wenn sie zur Mutter gehen. Beim Vater wollen sie aber nicht bleiben. Der Verein bietet ihnen schließlich ein Asyl.

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Ein Ueberzähliges. Eine Mutter wendet sich an die Gesellschaft. Sie hat fünf Kinder zu ernähren. Als das fünfte kam, verließ sie ihr Mann, ein Wiener Arbeiter, der 60 bis 70 fl. im Monat verdient, mit der gewissenlosen Begründung, daß er für alle nicht mehr sorgen könne. Der Verein nahm der Mutter das Ueberzählige ab und verpflichtete den Vater, die Verpflegskosten hiefür zu zahlen. Die Mutter bringt sich mit Hilfe einer erwachsenen Tochter allein mit den anderen Kindern fort.

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Ein «Kind der Liebe», wie das falsche Wort lautet ist das nächste. Es wurde wiederholt so mißhandelt, daß die eigene leibliche Mutter schließlich eine Woche Arrest bekam und ihr das Recht auf ihr Kind abgesprochen wurde. Seither ist Ruhe in dem Hause des Kutschers, der die unnatürliche Mutter geehelicht hatte. Sie quälte das Kind, weil es ihm nicht verzeihen konnte, daß sein natürlicher Vater sie im Stiche gelassen.

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Im Kampf ums tägliche Brot muß die Mutter, eine Taglöhnerin, den Knaben sich selbst und der Straße überlassen, daher «derselbe» körperlich und sittlich zu verkümmern droht. So ist es von einem anderen Kinde in der amtlichen Zuschrift eines niederösterreichischen Bezirksgerichtes zu lesen. Eine Tischlermeistersfrau nahm sich des Kindes einstweilen an, kann aber nicht ganz ohne Entschädigung das Kind behalten. Darum bittet das Gericht die Gesellschaft um Hilfe. Die Gesellschaft steuert monatlich 10 Kronen zu den Verpflegskosten bei, und das Kind ist gerettet. Wie wenig genügt doch oft!

Auch im nächsten Akt ist die Rubrik, die die Frage nach dem Vater enthält, offen. Die Mutter, gleichfalls eine Taglöhnerin, sieht in dem Kind eine Last, kann es auch nicht überwachen, mißhandelt es höchstens, wird wiederholt verwarnt und schließlich drei Tage eingesperrt. Das Gericht schreibt der Gesellschaft: Das Kind der Mutter zurückzugeben, hieße es in Gefahr bringen, da die Mutter selbst geäußert hat: «Wenn ich das Kind wieder krieg’, geschieht ein Unglück.»

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Das Bettelkind möge als letztes unter den Beispielen Platz finden. Ein jüdisches Kind, das von seinen jüdischen Pflegeeltern zum Betteln verwendet wird und Schläge bekommt, wenn es kein Geld nach Hause bringt, wird über Anregung der israelitischen Kultusgemeinde von der Gesellschaft bei anderen jüdischen Eltern untergebracht. Die Kultusgemeinde leistet hiefür einen monatlichen Beitrag von 25 Kronen.

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Das ist der soziale Boden der Kinderquälereien und das ist die segensreiche Thätigkeit der Kinderschutz- und Rettungsgesellschaft, die noch viel energischer arbeiten könnte, wenn ihre Fonds schon so gestärkt wären, daß sie ihr nächstes Ziel, die Errichtung einer Kinderkolonie, erreichen könnte. Gerade in diesen Tagen erläßt die Gesellschaft wieder einen warmen Aufruf an Reich und Arm, das Scherflein zur Rettung der Kinder beizutragen. Da die öffentliche Verwaltung kein Geld für solche Zwecke übrig hat, muß auch auf diesem Gebiete die Privatwohlthätigkeit alles leisten. Wir wünschen der Gesellschaft Erfolg. Sie füllt eine empfindliche Lücke aus und macht zum Theil gut, was die schlechte Ordnung dieser Welt verschuldet.

m.w.

 

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