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Max Winter

L.S.W. Ein Tag Lagerhausarbeiter

Arbeiter-Zeitung vom vom 25. 12. 1900

Als sich die Arbeiter des Lagerhauses der Stadt Wien in der letzten Zeit zu rühren begannen und nicht nur den Bürgermeister Dr. Lueger an die bescheidenen Wünsche erinnerten, sondern auch die Einberufung einer sozialdemokratischen Versammlung veranlaßten, in der sie ihre Leiden aufdecken konnten, da war es der Gemeinderath und frühere Vertreter der Lagerhausarbeiter im Reichsrath, Herr Hermann Bielohlawek, der die Lagerhausarbeiter, seine Wähler, dem Bürgermeister denunzirte. Er vernaderte sie, daß sie eine sozialdemokratische Versammlung besuchen wollen, und frug den Bürgermeister, ob er solche Aufklärungen geben wolle, aus denen hervorgehe, «daß die Erledigung der Lagerhausarbeiterfrage nicht etwa die Folge einer künstlich arrangirten Protestversammlung bezahlter Agitatoren ist.»

So fragte ein Mensch, der von der Politik lebt, den anderen, der auch von der Politik lebt, dies in der Angst, Wähler zu verlieren, und der andere beeilte sich so gut er es versteht, dem Angstmeier zu Hilfe zu kommen. Der Herr Bürgermeister versprach dem um sein Mandat zitternden Freund, daß er über den Lagerhausarbeitern die Peitsche schwingen werde. Er sagte nämlich nach dem amtlichen Protokoll über die Gemeinderathssitzung vom 26. Oktober 1900 (Amtsblatt der Stadt Wien, Nr. 87, Seite 2038, zweite Spalte, oben) wörtlich: «Ich bemerke jetzt schon, daß, wenn sich die Lagerhausarbeiter wirklich verleiten lassen sollten, in dem hier angedeuteten Sinne vorzugehen, ich weiß, was ich zu thun habe und das auch gewiß durchführen werde.» (Beifall bei den Christlich-Sozialen. – Gemeinderath Reumann: Maßregeln!) – «In dem hier angedeuteten Sinn» heißt: Falls die Lagerhaussklaven in diese Versammlung gehen, wo ihnen Aufklärung, Rath und Unterstützung ihrer Forderungen zutheil werden sollen, und «ich weiß, was ich zu thun habe» heißt: Ich werde jeden erbarmungslos aufs Pflaster werfen, der nicht kuscht, der es wagt, aufzumucksen.

Herr Dr. Lueger ist offenbar ein guter Kenner der Kautschukparagraphe der Arbeitsordnung für die Arbeiter des Lagerhauses der Stadt Wien und konnte darum so recht wie ein brutaler Unternehmer sprechen und seinen Freund trösten.

Diese Arbeitsordnung «bestraft unnachsichtlich mit Kündigung, wenn»:

3. ein Arbeiter den Parteien Auskünfte über die Geschäftsvorgänge oder dienstlichen Angelegenheiten ertheilt, oder sich sonst zu Handlungen, welche gegen das Interesse des Lagerhauses verstoßen, mißbrauchen läßt.

Das auf Profit gegründete Lagerhaus hat andere Interessen als die Lagerhausarbeiter, die der Profit der Stadt gar nichts kümmert und die mit Recht sagen, lieber keinen Profit, als nur einen solchen, der von den Arbeitern herausgeschunden wird, als nur den Mehrwerth als Gebahrungsüberschuß. Thatsächlich erzielt das Lagerhaus der Stadt Wien aber nur dadurch einen Gebahrungsüberschuß, daß es den Arbeitern geringere Löhne zahlt, als es den Parteien, für die diese Arbeit geleistet wurde, anrechnet. Das statistische Jahrbuch der Stadt Wien gibt uns darüber werthvolle Aufschlüsse.

Unter den Einnahmen kehrt als Hauptpost der Satz Arbeitsgebühren wieder. Diese mußten die Händler an das Lagerhaus für die dort von den Arbeitern geleistete Arbeit zahlen. Unter den Ausgaben ist die Post Tag- und Wochenlöhne, und eine zweite: Arbeitsbehelfe eingetragen. Beide zusammen stellen die Arbeitserfordernisse dar, die dem Händler als Arbeitsgebühr in Rechnung gestellt werden.

Ein Vergleich dieser Posten zeigt deutlich, woher der Gebahrungsüberschuß kommt.

 

 

  Arbeits-
gebühren
Arbeitslöhne
und Behelfe
Profit am
Lohn
Gebahrungs-
überschuß
 
in Gulden
 
1894 0201.548,57 159.883,07 041.665,50 062.528,77
1895 0182.073,36 144.881,94 097.191,46 043.017,31
1896 0268.640,87 209.915,39 058.725,48 062.944,71
1897 0300.467,05 231.299,75 069.167,30 078.444,65
1898 0263.560,40 197.618,53 065.941,87 036.940,34

In Summe 1,216.290,25 943.598,68 272.691,57 283.675,78

 

 

Der Profit am Lohn betrug also in den letzten fünf Berichtsjahren 272.691 fl 57 kr. und der Gebahrungsüberschuß betrug 283.675 fl. 78 kr., also kaum um 11.000 fl. mehr. Im Jahresdurchschnitt der letzten fünf Berichtsjahre machte der Profit, den die reiche Kommune Wien aus den armen Lagerhausarbeitern zog, alljährlich die erkleckliche Summe von 54.538 fl. 31 kr. aus, der jährliche Gebahrungsüberschuß aber betrug 56.735 fl. 15 kr., oder es wurden 96 Perzent des Ueberschusses in einem aus Steuermitteln gegründeten Unternehmen aus den Arbeitern dieses Unternehmens herausgepreßt. Zu jedem Gulden des Ueberschusses mußten die Arbeiter von ihrer Arbeitsgebühr 96 kr. beisteuern. Gebühr heißt das, was jemand gebührt, was ihm von rechtswegen für eine Leistung zukommt. Dadurch, daß die christlichen Herren von Wien von den Händlern eine höhere Summe als Gebühr für die Arbeit fordern, sprechen sie aus, daß diese höhere Summe den Arbeitern gebührt, aber sie zahlen den Arbeitern eine bedeutend kleinere Summe, das heißt auf gut deutsch, sie stehlen den Arbeitern diese Summe aus der Tasche.

54.538 fl. oder 109.076 Kronen erhalten die etwa 500 Lagerhausarbeiter also weniger Lohn, als die Kommune den Parteien in Rechnung stellt, das heißt, es muß jeder Lagerhausarbeiter für das Vergnügen, sich in kommunalen Diensten plagen zu dürfen, Jahr um Jahr 218 Kronen 15 Heller von seiner Arbeitsgebühr abgeben.

Angesichts solcher Ziffern muß Herr Dr. Lueger freilich Angst davor haben, daß den Lagerhausarbeitern die Augen geöffnet werden, und er wird vor keinem Mittel zurückschrecken, die Lagerhausarbeiter vor einer Berührung mit den (für ihn) «bösen Sozis» zu bewahren. Der Herr Dr. Lueger wird darum der erste sein, der die angeführte Bestimmung der Arbeitsordnung – so unsinnig das auch ist – auch dann gegen die Lagerhausarbeiter in Anwendung bringt, «wenn sie sich sonst zu Handlungen, die gegen das Interesse des Lagerhauses verstoßen, mißbrauchen lassen», das heißt, wenn sie sich entschließen, den Sozialdemokraten über ihre Lage Mittheilungen zu machen.

Es mußte also, um die Lagerhausarbeiter vor einem Schaden zu bewahren, den sie vorläufig nicht abwehren können, die brutale Drohung mit der Hungerpeitsche durch eine List erwidert werden. Die Verhältnisse der Lagerhausarbeiter mußten ergründet werden, und zwar so ergründet werden, daß die Herren Lueger und Bielohlawek ihrem Maßregelungsbedürfniß nicht fröhnen können.

Die Herren sprechen immer von «bezahlten Hetzern» – diesmal haben sie selbst den «Hetzer» bezahlt, allerdings schäbig genug.

* * *

Ein Protektionskind des Herrn von Prochazka. Es war ein nebliger, düsterer Morgen zu Anfang Dezember, an dem ich mich entschloß, städtische Dienste zu nehmen. Wie da hineinkommen, darüber war ich mir schon früher klar geworden. Bei der begreiflichen Abneigung der Lagerhausverwaltung gegen die Sozialdemokraten, die die Arbeiter über ihr Elend aufklären und ihnen die Wege weisen, wie sie zu besseren Lebensverhältnissen, wie sie zu mehr Brot kommen können – bei dieser vom Standpunkt des Profits nur natürlichen Abneigung mußte ich mich hüten, den Herren als Sozialdemokrat zu kommen. Der Herr Direktor Straßer hätte mich entweder mitleidig belächelt, oder mich für toll gehalten, wenn ich ihm meine Bitte vorgetragen hätte, daß er mich einen Tag ungekannt von den Arbeitern und Aufsehern im städtischen Lagerhaus als Arbeiter unter Arbeitern schuften lasse, und ich hätte bis ans Ende der Tage christlich-sozialer Herrschaft warten müssen, bis ich da drinnen meine Arbeitskraft hätte verkaufen dürfen.

Wollte ich das Heute kennen lernen, so mußte ich zu den Christlich-Sozialen als – Christlich-Sozialer kommen. Das ist leichter als man denkt. «Der Zweck heiligt die Mittel», sagen die Jesuiten, und ihre Jünger, die Christlich-Sozialen, werden mir recht geben, daß ich, bevor ich Christlich-Sozialer wurde, zunächst mit diesem Grundsatz alle meine Skrupel beseitigte, nicht nur die häßliche Sache mir auflud, auch nur in Eines Menschen Auge als Christlich-Sozialer zu erscheinen, sondern auch so naturalistisch meine Rolle spielte, daß ich Mißbrauch mit einem – sonst geheiligten – Namen trieb und mir dadurch Eingang ins Lagerhaus verschaffte.

Der Protektor war Herr Julius Prochazka, der Vorsteher des städtischen Arbeitsvermittlungsamtes.

Es ist sieben Uhr Früh, als ich vor dem Eisengitterthor stehe, über dem der Eisenschild prangt: Lagerhaus der Stadt Wien. Die Pforte zur rechten Seite ist geöffnet. Ganz vereinzelt kommen Arbeiter und gehen hinein. Eine Gebäckshausiererin stellt ihren Korb neben die Eingangsthür. Ihre Waare geht gut ab. Fast jeder Arbeiter bleibt stehen und kauft sich sein «Schusterlabl» oder «Salzstritzl», schiebt es in die Tasche und geht hinein.

Bald bekommt die Gebäckshausiererin einen Kameraden. Ein Wachmann erscheint auf der Bildfläche. Ihn beschließe ich für meine Zwecke zu gebrauchen, und es gelingt mir vollkommen. Er rathet mir, mich an «Herrn Wobitz» zu wenden.

Ich trete abseits und lerne den Namen Wobitz auswendig. Wobitz, Wobitz, Wobitz ... so lange, bis er mir geläufig wird, dann gehe auch ich hinein und menge mich in den Haufen der Arbeiter.

Von der tieferliegenden Portierloge führen einige Stufen zum Niveau der Straße. Auf der letzten Stufe wird jetzt ein Pult aufgestellt. Um dieses gruppiren sich die Arbeiter. Einzelne wenige anständig gekleidete sind darunter. Fast allen hängen Fetzen von ihren Kleidern. Einige, die Lumpen, die Plage der übrigen Arbeiter, stieren mit verglasten Augen vor sich hin. Besonders einer mit einem schwarzen Vollbart ist das Urbild eines Säufers. «Straßki, hast dein’ Rausch von vurgestern no net ausg’schlafen?» Der Betrunkene antwortet mit blödem Lachen. Festgekeilt in der Masse, umfängt mich Fuseldunst und Schweißgeruch. Ich strebe hinaus, und es ist gut, denn bald darauf entschied sich mein Schicksal.

Ein junger Mann erscheint an dem Pult, legt eine geschriebene Liste auf und beginnt daraus alphabetisch geordnete Namen zu verlesen: Adamek, Amberg, Anger, Apfelbeck ...Die Aufgerufenen melden sich, drängen sich durch die Masse zum Pult, bekommen dort eine Messingblechmarke und gehen über die Stufen hinunter und gegen die Lagerhäuser zu. Die Verlesung war bis D vorgeschritten, als ein großer Mann im grauen Mantel in das Portierhäuschen trat. Das mußte der Herr Wobitz sein, dessen Personsbeschreibung ich mittlerweile bei meinen zukünftigen Arbeitsbrüdern erkundigt hatte. Richtig war er es. Als er herauskam und sich der Stiege zuwendete, trat ich ihm in den Weg.

«Herr Wobitz, i thät’ um a Arbeit bitten! Der Herr Prochazka hat mi zu Ihna g’schickt ...»

«Warten S’ a weng!»

Er ging in den Haufen der Arbeiter, der sich auf der Straße drängte, gab dem Markenvertheiler noch einige Marken und kam dann herunter.

«Also, was woll’n Sie eigentlich?»

«I thät schön bitten, Herr von Wobitz, um a Arbeit. Der Herr v. Prochazka kann m’r kane geben, und er hat g’sagt, i soll z’erscht da abagehn, vielleicht is da was ...»

«Welcher Prochazka?»

«No, der von der Arbeitsvermittlung. Bei mein’ G’schäft – i bin a Bäck – is jetzt nix. Vur die Feiertäg geht ka Bursch aus der Arbeit, und i möchte’ m’r do no a paar Netsch verdeana.»

«Wia haßen S’?»

Ich nannte ihm einen Namen, dann sagte er: «Na, da hab’n S’ a Mark’n.»

Auf dem Blech stand auf der einen Seite die Firma, auf der anderen das Wort: Aufnahme. Ich war Lagerhausarbeiter, und zwar Lagerhausarbeiter dank der Protektionswirthschaft der Christlich-Sozialen, ohne die ich wohl schwerlich aufgenommen worden wäre.

* * *

An die Arbeit. Bis zum Arbeitsbeginn kann ich mich noch in der Kantine umsehen und schließe dort eine werthvolle Freundschaft. Obwohl ich wußte, daß die Tagarbeiter zumeist in den Pratermagazinen verwendet werden, wollte ich mich doch sicherstellen und bandelte darum mit einem Arbeiter ein Gespräch an. Er gibt mir den Rath, mich dann bei der Zutheilung auf die rechte Seite zu stellen. Ich thue, wie mir gerathen, und komme ins Vierer-Magazin. Bei der Eintheilung müssen wir wieder die Blechmarke abgeben, und wir erhalten dafür jeder einen kleinen Karton, auf den die Magazinsnummer gedruckt ist.

Der Weg ins Magazin ist ziemlich weit. Im Magazin angekommen, legen wir in einem Verschlag unsere Ueberkleider ab, unsere Namen werden notirt, und dann werden wir in Partien getheilt.

Das Magazin ist ein riesiger Hallenbau, der von etwa zwanzig großen Fensteröffnungen an jeder Längsseite der Halle sein Licht empfängt. Beim Eintreten kann man den Riesenraum fast gar nicht übersehen. Erst allmälig findet man sich zurecht. Das Magazin ruht auf einem hölzernen Unterbau, der etwa einen Meter über dem Niveau der Straße und der Bahngeleise liegt. Er ist von Quergassen durchschnitten, auf denen die Waggons direkt in die Magazinshalle gebracht werden, eine Arbeit, die auch den Taglöhnern zukommt, trotzdem hiefür eigentlich ein eigenes Verschubpersonal angestellt sein sollte. Doch davon später.

Zu einer solchen Quergasse wird unsere Partie dirigirt. Wir sind unser neun Mann. Der Partieführer – ein Wochenarbeiter – schreitet voran und theilt uns dann zu. Das ganze Magazinspodium ist in eine Unzahl kleinerer und größerer Verschläge abgetheilt, die je nach ihrer Größe den Inhalt von fünf bis fünfzig Waggons fassen, wenn er in ihnen aufgeschüttet wird. Die aus den Waggons geholten Säcke werden an der «Bürste», dort, wo sie zusammengebunden sind, aufgeschnitten, und dann rinnt das Getreide aus dem Sack direkt auf den Haufen, der zusehends wächst. Im Vierer-Magazin ist zumeist Hafer aufgehäuft.

* * *

Im Waggon. Diese Haufen aufzuschütten, ist unsere Aufgabe. Ein prüfender Blick des Partieführers trifft mich, bevor er mich zutheilt. «Was san denn Sö?» – «G’lernter Bäck’.» – «Da kinnens ja Säck’ tragen.» – «I hab’s no net probirt ... I bin aus der Lehr’ glei’ zu mein Onkel kummen, und da hab i nur schreiben därfen.» Ich habe mich glücklich herausgelogen und komme zu der «leichteren» Arbeit, das heißt ich wurde mit noch drei anderen in einen Waggon kommandirt, der bis zur Decke mit gefüllten Säcken vollgepfropft war. Diese Säcke mußten wir den anderen Fünf, die zum Sacktragen verurtheilt waren, auf die Achseln heben.

Im Anfang ging’s mir ganz gut. Es waren zumeist nur 50 bis 60 Kilo schwere Säcke, die wir zu viert zu heben hatten, und dann war ich ja frisch bei Kräften. Als aber um 9 Uhr Früh etwa mein «G’spann» scherzweise meinte: «Heut will’s wieder net fünfe werd’n!», da stimmte ich ihm schon im Stillen zu. Ich für meinen Theil mochte in dieser ersten Stunde schon etwa 3000 Kilo gehoben haben, wofür ich allerdings schon die respektable Summe von 30 Hellern «ins Verdienen» gebracht hatte. Von dem ewigen Bücken und Heben schmerzten mich auch schon das Rückgrat sowie die Bauchmuskel. Gegen Ende des Waggons wurden die Säcke immer schwerer und schwerer. Achtzig bis hundert Kilo ein Sack und in jeder Minute gut zwei vorzurichten und zu heben – das kostet Schweiß. Ich kam auch schon bedenklich in die Hitze, trotzdem es in der großen, ungeheizten zugigen, überall offenen Halle keineswegs warm war.

* * *

Lump, sauf’ Wasser! Einer meiner Kameraden war ein deklassirter Kleinbürger, ein ehemaliger Gastwirth, der endlich im Lagerhaus gelandet war, nachdem er als Kellner, Depeschenträger und Verschieber bei der Bahn sein Glück versucht hatte. Seit fünfzehn Jahren ist der Mann im Dienste des Lagerhauses. Er bleibt nur aus, wenn ihm der Alkohol gar zu arg mitspielt. Er ist ein schwerer Schnappstrinker, was wir in dem Waggon deutlich spüren. Da drinnen riecht es wie in einer Branntweinkneipe. Er versichert uns zwar wiederholt, daß er heute erst ein Achtel getrunken habe, aber ein Anderer – ein Krauskopf – meint, daß es wohl ein Viertel gewesen sein dürfte. «Wann i jetzt an’s hätt’, auf an Zug wär’s drunt,» renommirt der ehemalige Wirth. «Kauf d’r liaber a Bier!» – «Was hab’ i denn vom Bier? Da trink’ i glei’ liaber a Wasser ...» – «Wär’ eh besser für di, da ... merk d’r das.» Dabei wies der Krauskopf auf das Lagerhauszeichen L. S. W., das in jeden Sack eingewebt ist, das die Lagerhausarbeiter aber in die Mahnung umdeuten: «Lump, sauf’ Wasser!»

Der andere lachte: «Wann i mehr Geld hätt’, thät’ i ’s eh beherzigen. Aber der Wein is m’r z’ theuer. A Viertel Branntwein is billiger als a Viertel Wein und gibt für an Liter aus.»

«A Wasser sollst saufen, Lump!»

«Aber dös haßt ja: Lump, sauf Wein.»

Alle lachen, auch der Dritte, ein guthmütiger Slovak.

* * *

Säcke füllen. Wir sind mit unserem Waggon fertig. Der Partieführer steigt vom Haufen herab, auf dem er die Sackbürsten mit dem Messer geöffnet hatte, und kommandirt uns zum Sackfüllen. Wir wanderten zu einem anderen Verschlag. Einem war befohlen worden, drei «Pitteln» zu bringen. Als wir anderen einen Moment stehen blieben, schnauzt uns der Partieführer an: «Vorwärts! Vorwärts!» und ging geschäftig voraus. Im Verschlag hält einer den Sack auf, während wir drei anderen Büttel um Büttel in die Säcke schütten müssen. Um das Büttel zu füllen, mußten wir es in den schräg abfallenden Getreidehaufen vor uns möglichst tief stechen und dann den Rest mit der Hand zuschieben. Die anderen sind flink. Ich komme ihnen nicht nach. In jeden Sack gehen drei Büttel. Ein Büttel voll wiegt also ungefähr 20 Kilo. Wir füllten etwa 50 Säcke. Als wir zu Ende waren, standen mir die Schweißtropfen auf der Stirne und der Rachen schien mir verklebt von dem Getreidestaub, den wir mit unserer Arbeit aufwirbelten und unmittelbar einathmen mußten. Ich hatte Rock und Gilet geöffnet, um mich später gegen die Einflüsse der Kälte schützen zu können. Das war gut, denn gleich nach dieser schweißtreibenden Arbeit mußten wir ins Freie hinaus, ohne daß wir Gelegenheit hatten, uns vorher langsam abzukühlen. Ich knöpfelte Gilet und Rock zu und stülpte den Kragen auf. Die anderen lachten über diese Empfindlichkeit.

«Aber i schwitz’ do!» vertheidigte ich mich.

«Vo’ dera Arbeit? Dö is do gar net so schwer. Was thät’st denn, wannst Hundertersackeln tragen müaßt?»

«Davonrennen!»

Die anderen lachten, aber ich hatte sie für mich gewonnen. «Wann wenigstens a Kammerl da war, wo m’r a bißl verschnaufen kunnt, aber im Schweiß außimüass’n, da müass’n d’ Leut’ z’grund geh’n! Oes wißt’s ’s vielleicht net, aber g’wiß war das scho’ viel’n ihr Tod.»

«Wir wissen’s net?» mischte sich jetzt der Krauskopf ins Gespräch. «Wir wissen’s net? Wir wissen’s ganz guat. Aber was willst d’ denn machen? Sag’s ’n Aufseher, er wird d’r d’ Antwurt net schuldi’ bleib’n. Erscht unlängst hat ’r an g’fragt: Ob ’r vielleicht an Stadtpelz zur Arbeit will. So hakli därf m’r bei unserm G’schäft net sein.

«Dös haßt, d’ Leut’ z’grund richten!»

«Wahr is eh!»

* * *

Die Gefahren des Sacktragens. Draußen mußten wir wieder einen Waggon ausladen. Diesmal sind es durchwegs Hundertersäcke, die wir den Sackträgern aufbürden. Dabei kommen auch diese in Schweiß, und nun gilt von ihnen in viel erhöhterem Maß, was früher von mir galt. Hundert Säcke sind im Waggon. Diese vertheilten sich auf fünf Mann, so daß jeder 20 Säcke zu tragen hat, oder daß sich jeder, da er schon nach den ersten fünf Säcken schwitzt, wenigstens fünfzehnmal dem empfindlichen Temperaturwechsel aussetzen muß.

Die Sackträger müssen diesmal auf einen hohen Haufen steigen. Dorthin führte ein schiefer Laden, der auf eine Treppe aufgelegt ist. Wie gefährlich es ist, diesen Laden zu passiren, mußte ich gleich später erfahren. Beim Aufheben der Säcke war bei einem die «Bürste» losgegangen, und mehr als die Hälfte des Sackinhaltes rann auf den Boden des Waggons. Ich wurde beordert, diesen Hafer in Büttel aufzufassen und zum Haufen zu tragen: Kunstgerecht ging ich in dem gemessenen Schritt der Sackträger zum Haufen und stieg die Rampe hinauf. Beim ersten Büttel – ich trug es auf der Achsel – wäre ich bald ausgeglitten. Die schiefe Treppe ist mit Haferkörnern wie übersäet, und ich rutschte auf dem schlüpfrigen Boden. Es wäre ein einfaches Gebot der Vorsicht, diese Treppen während der Arbeit stets zu reinigen. Dies ginge ganz leicht, wenn die Partien einen Mann mehr hätten, eine Art Reservemann, der überall dort einspringt, wo momentan eine Hilfskraft gebraucht wird.

Eine Hilfskraft wäre ja auch schon nothwendig gewesen, als uns der Sack ausrann. Während ich den verstreuten Hafer zusammenkehrte, häufelte und die drei Büttel hineintrug – und ich ließ mir Zeit, weil ich mir dieses «Schmalz» nicht entgehen lassen wollte –, hatten die anderen drei je 33 Kilo mit jedem Sack zu heben, waren also schlimmer daran. Später traf auch mich eine solche anstrengende Tour. Eine Hilfskraft hätte da ganz gut einspringen können, und die Plage wäre nicht über das gewöhnliche Maß gewachsen.

* * *

Die Großstadt hat einen guten Magen – kann Roßmist und Sputum vertragen, so dichtete ich den bekannten Vers Goethes um, als wir später einen serbischen Waggon ausladen mußten. Das Land des kleinen Alexander ist in der Kultur noch sehr weit zurück und hat zum Beispiel die Segnung der Dreschmaschine noch nicht erkannt. Der serbische Hafer wird «ausgetreten», das heißt, man läßt den geschnittenen Hafer auf dem Feld liegen und läßt dann die schweren Pferde so lange darauf herumtreten, bis der Hafer aus den Aehren gefallen ist. Dann erst wird der Hafer zusammengeschaufelt und verladen. Daß dabei auch der Roßmist und Erde mitgeschaufelt wird, ist unvermeidlich. Der serbische Hafer ist also sehr verunreinigt. Erde und Roßmist werden in den Magazinen der Schleppschiffe, die den Transport besorgen, und bei dem wiederholten Umfüllen in Säcke zu Staub, und zwar zu recht gefährlichem Staub, der beim Ausschütten jedes Sackes auf dem Haufen wie eine Wolke aufsteigt.

In dieser Wolke steht der Partieführer, der in der Regel den Sack aufzuschneiden hat, und er hat das zweifelhafte Vergnügen, den ganzen Staub einzuathmen. Dem Reiz im Kehlkopf nachgebend, spuckt er dann um sich herum wie ein Tuberkuloser, der noch nicht den Gebrauch des Spuckfläschchens gelernt hat. Der Anblick ist ekelerregend. Er spuckt direkt in das Getreide, und wenn man auch annehmen kann, daß die Frucht gereinigt wird, bevor sie als Mehl dem menschlichen Genuß zugeführt wird, so bleibt es doch ekelerregend.

Wenn die Partieführer im allgemeinen nicht solche Weinberln nach oben wären, so hätten sie für diese Arbeit längst schon Respiratoren verlangen und bekommen müssen. Aber das ist die letzte Sorge dieser Herren. Als Wochenarbeiter, glauben einige von ihnen, sind sie etwas «Besseres», treiben, allerdings wieder unter dem Druck der zumeist christlich-sozialen Aufseher, die Arbeiter an und trauen sich nicht, für sich selbst ein so einfaches Schutzmittel zu verlangen. Allerdings hätte die Lagerhausverwaltung schon längst auf diesen Einfall kommen können, von selbst kommen können, es hätte sich nur einer der Herren einmal eine Viertelstunde lang bemühen müssen, dieser mörderischen Arbeit, die so ekelhafte Folgen hat, zuzusehen. Viel Verstand hätten sie nicht gebraucht, um durch Einführung von Respiratoren die Arbeiter vor der Tuberkulose und das Getreide vor dem Speichelauswurf zu schützen.

Wer da genauer zusieht, dem steigt überhaupt öfter das Grauen auf. Der Slowak von unserer Partie, der «Zuckerln», das sind Zigarettenstummel, kaute, spie stets auf den Boden des Waggons, und wenn dann zum Schluß gekehrt wurde, um den «kostbaren Rest» zu retten, da wurden diese Auswürfe auch mitgekehrt und auf den Haufen geworfen. Die Erziehung der Arbeiter zum Spuckfläschchen wäre der zweckendsprechende Ausweg. Wenn das Lagerhaus auch städtisch ist, so eine Schweinerei muß nicht sein.

* * *

Die Hoffnung der Dummen. Kehren wir wieder in den Waggon zurück. Da ein Mann von der Trägerpartie fehlt – er hat sich abseits begeben – und die Träger einen weiten Weg haben, geht es etwas langsamer mit der Arbeit, etwas flotter mit der Unterhaltung. Es wird über die Lotterie gesprochen. Der Slowak erzählt in gebrochenem Deutsch eine der vielen Leidensgeschichten, die jeder Lotteriespieler zum Besten zu geben weiß. Er ist einmal in eine Kollektur am «Mittelsteig» (Mittersteig in Margarethen) gekommen, in der Absicht zu setzen. Dabei ist er mit einem alten Lotteriebruder ins Gespräch gekommen, und dieser hat ihm gesagt, daß der 16er, 17er und 24ger in der nächsten Ziehung kommen müssen. Er hätte aber nur 36 kr. setzen können, und das hat er sich doch überlegt. Es war gerade seine Schwägerin bei ihm zu Besuch, «und da hab' ich mi lieber Bier kaft. Mein Alte hat su kann Geld g’habt, hab’ i mi überlegt, und am Samstag war’n alle drei Numero da. Hätt i tausend Guld’n kriegt, und so hab’ i Schmarrn g’habt.»

«Was war’n das für drei Nummero?» fragt ein Sackträger, der den letzten Theil der Erzählung, die von zweimaligem Sackheben unterbrochen war, mit angehört hatte. Der Slowak wiederholte die Zahlen. «Also sechzehn, siebzehn und vierazwanz’g? Dö muaß i m’r mirken. Vielleicht hab’ i do amal a Glück. A Sechserl riskir’ i.» – «Kauf d’r liaber was, verhungerter Pinsch,» sagt der Krauskopf, «um a Sechserl kriagst a Kriagl Bier, a Laberl und no an Kreuzer außa!»

* * *

Schiab’ an, ruck! Nach dem dritten Waggon, den wir wieder im Magazin ausladen, müssen wir auf die Strecke hinaus. Zuerst müssen die leeren Waggons vom Magazinsgeleise auf die Drehscheibe vor dem Thor gebracht werden. Wir sind unser neun Mann und rollen mit Leichtigkeit den Waggon aus dem Magazin. Bei der Drehscheibe angelangt, müssen wir den Waggon durch Dagegenstemmen bremsen und zum Stehen bringen. Der Partieführer legt Scheiter vor den Rädern auf und bereitet so dem Waggon auch noch Hindernisse. Der Waggon steht. Jetzt geht alles auf Kommando: «Magazin Stadlau!» ruft der Partieführer. «Alle Mann, schiab’ an, ruck!» schreit mein Nebenmann. Die Scheibe dreht sich. «Achtung bei die Puffer!» ruft wieder der Partieführer. Und das ist notwendig, denn die Scheibe ist so nah am Magazin, daß bei der Drehung zwischen den Thorpfeilern und den Puffern nur ein so geringer Zwischenraum bleibt, daß der Arbeiter, der da eingezwängt würde, zweifellos zermalmt würde. Also: «Achtung bei die Puffer!» Dieses Warnungssignal des Partieführers ist die einzige Vorsichtsmaßregel, die angewendet wird, um die Taglöhner des Lagerhauses vor den Gefahren dieses Dienstes zu schützen. In erster Linie wäre nothwendig, so viel Spielraum für die Drehscheibe zu schaffen, daß ein solches Unglück ausgeschlossen wäre. Dies wird die Kommune Wien vielleicht dann thun, wenn ein Opfer gefallen ist. Dann aber wäre das ständige Verschubpersonal derart zu vermehren, daß die Lagerhausarbeiter überhaupt nichts mit dem Verschubdienst zu thun hätten. Dies geschieht aber nicht. Wieder aus einem finanziellen Grunde. Das Fleisch der Lagerhausarbeiter ist billiger als das Fleisch ständigen Bahnpersonals, das man mit 1 fl. 20 kr. Taglohn nicht abspeisen kann. Und dann hat die Lagerhausverwaltung das vom Standpunkte des Profits aus löbliche Bestreben, so wenig ständige Arbeiter als möglich zu haben. Gegen Taglöhner hat man keine Verpflichtungen, Wochenarbeiter streben – das ist schon so ein Zug der Zeit – Stabilisirung an, sie lassen sich zwar auch Schundlöhne gefallen, aber sie wollen diese wenigstens ständig haben. Da hat dann die Verwaltung Sorgen. Ein Taglöhner, der nicht paßt, kriegt gleich den Laufpaß. In Zeiten stärkeren Verkehrs findet man genug Arbeitslose, namentlich, wenn man jeden nimmt und keine Papiere, kein Arbeitsbuch, kein Ausweisdokument verlangt, in schwächeren Zeiten nimmt man einfach weniger auf. Die Aufnahme erfolgt täglich; braucht man weniger, nimmt man weniger. Das ist bequem, macht keine Sorgen, häuft keine Verpflichtungen des Unternehmers und kostet kein Geld. Freilich muß man dann auch alle möglichen «Pülcher» mit in Kauf nehmen. Aber unter diesen leiden ja doch nur die Arbeiter. Die Arbeiter aber mögen leiden.

Vom Standpunkt des Arbeiters aus gesehen, ist ein solches System der möglichsten Ausnützung der Macht aber brutal und einer Unternehmung unwürdig, deren Defizit eventuell vom Steuersäckel gedeckt würde.

Nachdem wir mehrere leere Waggons anschoben und das Geleise freigemacht hatten, mußten wir volle Waggons zuschieben. Das ist schon härtere Arbeit. Mit den Achseln an die Puffer gelehnt, schieben wir an.

* * *

«Zwamal kann i nöt!» Endlich hatten wir die Waggons an Ort und Stelle wieder im Magazin und konnten an die Ausladung gehen. Das war Vormittags nun schon der vierte und alle hatten Uebergewicht. Da der Haufen jetzt sehr nahe war, standen wir nicht nur unter der direkten Kontrole des Partieführers, sondern wir mußten auch noch rascher arbeiten. Die Sackträger hatten nur wenige Schritte zu gehen, und mochten sie noch so langsam sein, es war immer schon wieder der andere zur Stelle, wenn wir den einen gerade abgefertigt hatten. Wir konnten kaum schnaufen. Da jeder von uns schon gut seine 8000 Kilo an dem Vormittag gehoben hatte, hätten wir gerne etwas gemüthlicher gearbeitet. Der Unmuth wuchs. Speziell auf einen Träger hatten es meine Kameraden scharf. Sie sprachen von ihm nur per Hund und knurrten ihn an, so oft er kam: «Bist scho wieder da, Hund elendiger! Na, du wirst d’r do gnua Sackln trag’n! Schau, daß d’ aussi kommst, Hund!» So wurde er bekomplimentirt. Mit klassischem Gleichmuth ertrug er den Schimpf, ließ sich den Sack auf den Rücken werfen, steckte die Hände in die Hosentaschen und ging. Den freundlichen Wunsch: «Briech z’samm!» nahm er diesmal mit auf den Weg. Als er zurückkam, war ihm die Geschichte endlich zu dumm.

«Was wollts denn vo’ mir?»

«Aussi gehen sollst. Du warst heut Vormittag no’ net am Häusl.»

«Was? Wer? I? Amal war i schon ... und zwamal kann i net!»

Jetzt war alles für mich klar. Die Tagarbeiter haben keine Ruhepausen Vor- und Nachmittags, nicht einmal ein bischen auf einen Sack dürfen sie sich setzen, um auszuruhen. Dies zwingt sie, sich kleine Erholungspausen auf andere Art zu verschaffen. Sind nun fünf Träger, so gibt es selten eine Minute der Ruhe. Anständige Träger sorgen durch zeitweilige Abwesenheit dafür, daß die Auslader auch Momente der Ruhe haben. Die Weinberln und die «G’schreckten» freilich wagen es nicht, sich und den andern solche Augenblickspausen zu verschaffen. Sie fürchten die Partieführer, zu deren Obliegenheiten es zu gehören scheint, den Stuhlgang der Träger zu beobachten. Wenigstens war unser Partieführer ein solcher.

Den «Hund» hatte aber der Ehrgeiz gepackt, und als er den nächsten Sack vom Rücken hatte, schickte er sich an, hinauszugehen.

«Wo gehn S’ denn hin?» schrie ihm der Partieführer nach.

«Aussi!»

«Da bleib’n S’! Es is eh scho’ halber Zwölfe. Dö halbe Stund’ halten S’ scho’ no aus. Oder woll’n S’ nur an halben Tag mach’n?»

Diese Drohung mit der Hungerpeitsche verfing. Der «Hund» machte Kehrt und ließ sich wieder stumm einen Sack auf den Rücken legen. Als er ihn oben hatte, brummte er: «Da habts’s, ös Gauner!»

* * *

Wo ist der Herr Gemeinderath Eigner? Wo es in Wien eine Retiradefrage zu lösen gibt, da ist es gewiß der Herr Gemeinderath Eigner, der seine Nase zuerst hineinsteckt. An diesen vortrefflichen Fachmann, der sich auf alle Systeme der Spülungen ebenso gut versteht wie auf die Größenverhältnisse der in unbenütztem Zustand besser bedeckten Schlundöffnungen, mußte ich unwillkürlich denken, als ich mir die Verzweiflungsausbrüche meiner Kameraden zu Herzen nahm und, das Magazin durchschreitend, den kleinen Holzbau im Freien betrat. Es waren vier oder fünf Kabinen. Ich musterte alle und mußte mich nun wirklich wundern, daß unser geschätzter Mitbürger Eigner in den Lagerhausdebatten im Gemeinderath nicht das Wort ergriffen hatte. Diese Lagerhausaborte wären – um mit Herrn Eigner zu reden – ein Fressen für ihn. Es sind einfach mit Brettern verschalte Senkgruben ohne Sitzbrett. Dieses ist durch eine schiefe Fläche ersetzt, in der derart ein Loch ausgeschnitten ist, daß der Rücken eine Stütze findet. Die Sitzstelle vertritt ein Querbalken, über den ein Sack geworfen ist, der einzige Komfort in diesen gastlichen Hütten. Deckel ist keiner vorhanden, so daß der Eintretende sehen muß, was ihm draußen schon die Nase vermittelt hatte. «Da unten aber ist’s fürchterlich!»

Ich bin überzeugt, daß Herr Eigner in dieser Sache ordentlich hineinsteigen wird und brauche darum wohl nicht auf die sanitären Gefahren aufmerksam machen, die von diesen einzigen Erholungsstätten der Lagerhausarbeiter aus drohen.

Daß diese Anstalten die Erholungsstätten der Lagerhaussklaven sind, ist ein Skandal! Zweierlei müßte geschehen: Es müßten Vor- und Nachmittagspausen eingeführt werden, und bei jedem Magazin müßte ein im Winter heizbarer Erholungsraum mit Sitzgelegenheiten gebaut werden.

Wenn die Christlich-Sozialen auch Christen wären, brauchte man ihnen das erst nicht zu sagen und es von ihnen im Namen der Lagerhausarbeiter nicht erst zu fordern. Da sie aber keine Christen sind, sondern nur diesen Namen im Schilde führen, wird auch diese Aufforderung nichts nützen, und sie werden erst dann etwas für die Lagerhausarbeiter thun, bis diese sich tüchtig rühren und ihren Forderungen durch eine Organisation Nachdruck geben können.

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Mittag. Nach diesen Studien brauche ich am Vormittag nicht mehr lange zu schuften. Ein Träger hatte schon den Sack auf der Schulter, als eine heisere Stimme in der Mitte des Saales ein mir unverständliches Wort schrie. Das war das Mittagszeichen. Der Träger ließ den Sack, den er schon auf der Schulter hatte, wieder zur Erde fallen und ging mit uns – diesmal nicht mehr in gemessenem Trägerschritt, sondern im Schnellschritt eines Menschen, dessen Mittagsruhe karg bemessen ist – zum Verschlag, riß seinen Ueberrock herunter und draußen war er mit uns.

Der Strom der Arbeiter fluthete dem Praterausgang zu, in dessen Nähe, aber noch innerhalb des Lagerhausgebietes, die Kantine sich befindet. Viele gehen in die Kantine, um dort ihre Mittagsstunde zu verbringen. Ein großer Theil der Arbeiter geht aber auch hinaus, um sich bei einem Roßfleischauskocher zu sättigen, oder um in einer Branntweinboutique den Magen über die Mittagsstunde hinwegzutäuschen. Ein Paar Roßwürstel und ein «Laberl» kosten 8 Heller, ein «Thee» 10 Heller oder ein «Achtel» 12 bis 16 Heller, das gibt zusammen 18 bis 24 Heller, und der Magen muß befriedigt sein. Diese armen Menschen leben ja noch in dem Irrglauben, daß der Fusel, den sie da hineintrinken, auch sie stärkt, nicht nur den Geldsack des Branntweiners, daß er auch sie nährt, nicht nur den Schänker. Es sind viele Familienväter unter ihnen, die zu weit wohnen, als daß sie nach Hause gehen könnten oder daß ihnen das Essen zum Lagerhaus gebracht werden könnte. Sie müssen mit dem Heller rechnen. Wie sehr sie damit rechnen, beweist, daß einzelne von ihnen in der einen Mittagsstunde bis auf den Volkertplatz laufen, wo sie den Branntwein um einen Kreuzer billiger bekommen. Kaum verschnauft, müssen sie schon wieder zurücklaufen, um bei der Verlesung anwesend zu sein. Versäumen sie die Verlesung, dann ist es aus mit der Nachmittagsarbeit. Der Nachmittag ist für sie verloren. Dennoch wagen sie den weiten Weg hin und zurück daran, um – einen Kreuzer zu ersparen.

Der Rest sucht sich, so gut es geht, in der Kantine zu verköstigen.

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In der Kantine, die auf Restaurationsstyl geführt ist, kann der Arbeiter unter 60 bis 80 Heller kein kräftiges Mittagmahl bekommen. Da diese Ausgabe auch für das Gros der Kantinebesucher unerschwinglich ist, konnte ich ganz eigenthümliche Speisezusammenstellungen beobachten: Eine Suppe, ein Krügel Bier, ein Brot = 26 Heller; eine Suppe, ein Knödel mit Saft, ein Krügel Bier = 36 Heller; ein Schweinsgollasch, ein Knödel mit Saft, ein Krügel Bier, ein Brot = 72 Heller; ein Rindfleisch ohne, ein Krügel Bier, ein Brot = 54 Heller; ein Rindfleisch mit, ein Krügel Bier, ein Brot = 64 Heller; eine Suppe, ein Stamperl, ein Brot = 18 Heller; ein Knödel mit Saft, ein Stamperl, ein Brot = 24 Heller u.s.w. Ein Rindfleisch können sich nur die wenigsten vergönnen; vielen ist das Bier zu theuer und sie kaufen sich Schnaps. Bedienen muß sich jeder selbst. Beim Küchenschalter ist ein gefährliches Gedränge.

Dann kommt der Kampf um den Platz an den ungedeckten, schmierigen Tischen des Schankraumes. Fuseldunst, der Geruch von Biersatzeln, der Rauch und der Küchendunst geben zusammen eine Pestluft. Die ungeheizte Vorhalle ist wohl auch besetzt, aber hieher setzt man sich nur im Nothfall. Nach der Wärme ist das Streben aller.

So weit ich die Speisen kostete, fand ich das Essen schmackhaft und nach Wirtshausbegriffen preiswerth. Es bleibe aber dahingestellt, ob dies auch den Anforderungen entspricht, die man an eine Kantine stellen kann, obendrein an eine Kantine, die zu einer öffentlichen Unternehmung gehört.

Die Kommune hob früher von dem Kantineur einen Pacht von 3000 fl. ein und hebt jetzt 1800 fl. Pacht ein. Diese 150 fl. monatlichen Pacht und seinen Extraprofit zieht der Wirth natürlich aus den Arbeitern. Die Stadt Wien schämt sich also nicht, aus den armen Teufeln, aus den elend entlohnten Arbeitern noch 1800 fl. Extraprofit zu ziehen, die ihr zugute kommen.

Eine ausreichende, geräumige Kantine, in eigener Regie geführt, die schmackhafte und nahrhafte Speisen zum Selbskostenpreis abgibt, zu errichten, wäre schon längst Pflicht der Stadt Wien gewesen. Wäre im Lagerhaus eine solche Kantine, dann müßten die Lagerhaussklaven nicht in die Branntweinbuden oder zum Roßfleischauskocher Mittag essen gehen, sie würden in der Kantine für die wenigen Kreuzer, die sie ausgeben dürfen, wenigstens eine halbwegs ausreichende Nahrung finden. Auch dies ist eine Forderung, die im Namen der Lagerhausarbeiter erhoben werden muß.

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Der Nachmittag. Nur allzu bald hieß es wieder antreten. Wir wurden wieder verlesen und bezogen unsere Arbeitsplätze vom Vormittag. Wieder Sack um Sack auf die Schultern der Träger heben, wieder die ermüdende, kraftfordernde Arbeit, die ich noch vier Tage danach in allen Gliedern spüren sollte. Nachdem der Waggon entleert war, wurde ich zum Schaufeln kommandirt. Auf einem Haufen stehend, mußte ich den Hafer Schaufel um Schaufel auf den Berg werfen, damit unten wieder Platz wurde. Nach einer halben Stunde etwa schien es mir, als ob bei jedem neuerlichen Bücken mein «Kreuz» abbrechen müßte. Ich empfand es als Erlösung, als ich dann wieder verschieben durfte. Wir mußten weit vorgehen, um die Waggons zu holen. Diese Gelegenheit nützte ich, um auch Blicke in die anderen Magazine zu werfen.

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Die anderen Magazine enthalten nicht nur Getreide. So ist gleich im Einser-Magazin Mehl und Zucker eingelagert. Aber auch Zwetschken, Reis, Nüsse, Powidl und Oel sind hier aufgestapelt: Ein Gewirre von Fässern, Säcken und Kisten! Eine vorsichtige Anfrage, wie es hier ist, machte mich mit den Leiden der Arbeiter bekannt. Sie klagen über den Magazinsaufseher Osana, der Antreiber und christlich-sozialer Agitator in einer Person ist. Er ist gerade nicht fein mit den Arbeitern, die einen Heidenrespekt vor ihm haben.

Im Magazin III wird nur mit Zentnersäcken manipulirt. Es ist das Gerstenmagazin. Auch hier klagen die Arbeiter über den Magazinsaufseher und seinen Helfer, die einen derartigen Druck auf die Partieführer ausüben, daß diese, ob sie wollen oder nicht, die Tagarbeiter sehr antreiben. Wer fest schimpft, der ist der beste Partieführer.

Im Fünfer-Magazin versieht die Stelle eines Aufsehers ein Wochenarbeiter, der für einen Jugendstreich nun so schwer büßen muß, daß er trotz seinem redlichen Willen nicht vorwärtskommen kann. Er hat die Arbeit eines fest Angestellten, aber den Höchstlohn eines Wochenarbeiters, nämlich 20 Kronen. So nützt die Kommune wohl die höheren Fähigkeiten eines Arbeiters aus, schützt aber Moralbedenken vor, wenn sie dafür auch höheren Lohn zahlen soll. Das muß eine schöne Moral sein, nach der solche Dinge möglich sind.

Außer Weizen, Korn, Mais und Hafer sind hier auch Wollballen, Haare, Fässer mit Unschlitt etc. aufgestapelt. Zum Fünfer-Magazin gehören auch die Spiritusreservoirs.

Im Sechser-Magazin sind die Säcke aufgehoben. Es heißt allgemein das Sackmagazin. Hier ist das eigentliche «Schmalz» zu holen. Die hier zugetheilten Arbeiter sind, wie ich später in der Kantine erfuhr, meist wirkliche Protektionskinder des Prochazka. Hier ist die leichteste Arbeit. Säcke zusammenstecken, in die verschiedenen Magazine laufen und die Ueberschußsäcke abholen, auf den Donauquai mit einem Handwagen fahren und Säcke abliefern – lauter verhältnißmäßig leichte Arbeiten.

Das Magazin VII ist ein selten benütztes Freilager.

Als ich von meinen Entdeckungsreisen zurückkam, sah mich der Partieführer. «Wo war’n S’ denn?» – «Mir is schlecht g’wesen.» – «Wann S’ net g’sund san, bleib’n S’ daham. Kane Krüppeln kinn’ m’r net brauchen.» Ich ließ den ausgebeuteten Ausbeuter oder, wenn man will, den angetriebenen Antreiber, der als Wochenarbeiter 8, 9 oder 10 fl. Lohn hat, reden und ging zu meiner Partie.

* * *

Unsere Tagesleistung. Als ich gegen 5 Uhr Bilanz machte, kam heraus, daß wir zu viert sechs übergewichtige Haferwaggons ausgeladen hatten, die etwa mit 80.000 Kilo beladen waren. Außerdem hatten wir zu neunt vier volle Waggons und etwa zehn leere Waggons je einen Viertelkilometer weit verschoben. Allein hatte ich 15 Säcke mit je 20 Kilo schweren Bütteln füllen müssen, und eine halbe Stunde mußte ich schaufeln.

Die Gesammtleistung eines Ausladers betrug also:

 

 

Säcke gehoben 020.000 Kilo
Waggons geschoben auf eine Strecke von 1 Kilometer 01.700 "
Waggons geschoben auf 2 ½ Kilometer 0600 "
45 Bütteln zu 20 Kilo gehoben 0900 "
30 Minuten geschaufelt, eine Minute drei Schaufeln zu je 4 Kilo 0360 "
Dazu noch andere kleinere Verrichtungen im Laufe des Tages 500 "

Summe 24.060 Kilo

 

 

Dafür bekam ich dann auf Grund meiner Blechmarke beim Schalter im Kanzleigebäude 1 fl. 20 kr., respektive 1 fl. 18 kr. Lohn. 2 kr. mußte ich für die Krankenkasse zahlen. In Lagerhausdiensten muß man also normal für einen Heller 100 Kilo heben, ziehen, tragen, schieben, oder man muß, da sich die Arbeitsleistung von 24.000 Kilogramm auf acht Stunden vertheilt, in jeder Stunde 3000 oder in jeder Minute 50 Kilogramm heben oder sonst mit seiner Körperkraft befördern.

Ich hielt diese Berechnung für nützlich, damit die christlichen Herren im Rathhaus, die schon seit drei Jahren die Forderungen der Lagerhausarbeiter unerledigt lassen, endlich wissen, was diese armen Teufel für den schäbigen Lohn leisten müssen.

Die Schäbigkeit der Kommune Wien gegenüber ihren Arbeitern wird durch diese Berechnung der Leistung, die – man denke an das Verschieben – eigentlich noch viel höher ist, erst ins rechte Licht gerückt. Es ist hoch an der Zeit, daß die Lagerhausarbeiter über ihre Lage endlich nachzudenken beginnen.

Von den Machthabern im Rathhaus haben sie nichts zu erwarten. Die Lagerhausarbeiter sind, will man das Lagerhauszeichen «L. S. W.» auf sie deuten, «Lauter Sklaven Wiens».

Ein zweiter Artikel soll uns in die Quaimagazine und zu den Schleppausladern, den Akkordarbeitern führen.

 

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