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Max Winter

Berliner und Wiener Asylhäuser

Arbeiter-Zeitung vom 8. 1. 1899

In der Weihnachtsnummer der «Arbeiter-Zeitung» haben wir einer Schilderung Raum gegeben, die eine Nacht im Wiener Männerasyl zum Vorwurf hatte. Indem wir die Verhältnisse schilderten, wie sie sind, glauben wir auch gezeigt zu haben, wo und woran es fehlt. So verdienstlich die Thätigkeit des «Asylvereines für Obdachlose in Wien» ist, so wird man sich nach einem praktischen Auskosten der in den Asylhäusern gebotenen Einrichtungen dennoch nicht der Ueberzeugung verschließen können, daß das dort Gebotene viel zu wenig ist, und daß selbst dies Wenige viel zu Wenigen geboten wird.

Das derzeitige Präsidium des Wiener Asylvereines verschließt sich selbst auch keineswegs dieser Ueberzeugung. Dies beweist der letzte Stadtrathsbericht, aus dem hervorgeht, daß der Asylverein plant, sein Asylhaus zeitgemäß umzubauen, beziehungsweise ein ganz neues Haus zu errichten, wenn – und nun kommt der Haken – die Gemeinde Wien hiezu dem Verein einen geeigneten Grund überlassen wollte. Der Asylverein hat sich deshalb an die Gemeindeverwaltung gewendet, und der Stadtrath beschloß, der Magistrat sei zu beauftragen, einen eingehenden Bericht über die Angelegenheit zu erstatten. Darin seien Vorschläge zu machen, unter welchen Modalitäten der Gemeinerath in den Tausch eines dem Bürgerspitalfonds gehörigen Grundkomplexes von 1200 Quadratklafter gegen die dem Asylverein für Obdachlose gehörigen Realitäten Blattgasse Nr. 4 und 6, Seidlgasse Nr. 7 eingehen könnte, und welcher Bestimmung dann die erworbenen Realitäten zugeführt werden könnten. Die Sache hat also noch gute Wege.

Diesem Stand der Wiener Asylfrage wollen wir einige Daten über die Berliner Asylverhältnisse gegenüberstellen und daran gleich zeigen, woran es im Wiener Asylhaus fehlt. Die uns vorliegenden Publikationen des Berliner Asylvereines für Obdachlose zeigen uns eine Musteranstalt, mit der die Wiener Einrichtung auch nicht annähernd verglichen werden kann. Den Namen haben beide Anstalten gleich und auch den Zweck, Obdachlosen Asyl zu bieten – aber das Wie ist grundverschieden.

Die Wiener Asyle haben 324 Betten Belegraum, und zwar hat das Frauenasyl 60, das Männerasyl 194 und die Winterfiliale im X. Bezirk 70 Betten. Die Berliner Asyle hatten schon 1896 vor ihrem Neubau, respektive vor ihrer Umgestaltung 430 Betten Belegraum (310 Männer, 120 Frauen und Kinder); seit Dezember 1896 aber, seit das neue Männerasyl eröffnet und das Frauenasyl erweitert wurde, finden täglich 700 Männer und 150 Frauen und Kinder Unterkunft, zusammen also 850 Personen gegen 324, respektive 254 (im Sommer) in Wien. Wien hat 1,600.000 Einwohner, Berlin etwas über 2 Millionen Einwohner – das Verhältnis ist also ein gar nicht ungleiches. Daher kommt auch der Jammer, daß in Wien täglich soundsoviel Personen gar nicht eingelassen werden und unter Verhältnissen die Nächte zubringen müssen, die einfach haarsträubend sind.

In Wien müssen sich die Obdachlosen eine Stunde und noch mehr im Freien anstellen, um dann vielleicht einen Platz zu bekommen, dies in ihrer mangelhaften Kleidung, in ihrem schlechten Schuhwerk – in Berlin hat das Asyl für Männer, dessen Kurator seit vielen Jahren unser Genosse Paul Singer ist, eine geräumige, stets auf fünfzehn Wärmegrade temperirte und gut ventilirte Sammelhalle, die 400 Sitzplätze und so viel Raum zum Stehen enthält.

In Wien untersucht nur der arme «Asylhausknecht» die Eintretenden, ob sie Ungeziefer haben, in Berlin ist Waschung, respektive Bad vorgeschrieben. Von denen, die sich nur waschen, treten je sechzig Mann in den Waschsaal, in dem sechzig Waschbecken für Kalt- und Warmwasser vorhanden sind. In Wien haben wir etwa zehn Becken in einem kleinen Raum und dazu gehörig ebensoviele dreifache Handtücher. Die Badenden gelangen im Berliner Asyl zu je 76 Mann durch eine andere Thür in den Auskleideraum, entledigen sich hier ihrer Sachen, geben diese durch einen Schalter in den Desinfektionsraum und gehen dann in den sich anschließenden Badesaal, der 275 Quadratmeter groß ist und 20 Wannen- und 56 Brausebäder mit Fußspülung enthält. In einer besonderen Abtheilung des Baderaumes findet die Ausgabe der inzwischen desinfizirten Kleidungsstücke und das Ankleiden statt.

In Wien sind arme Teufel, die mit Ungeziefer behaftet sind, überhaupt von der Wohlthat, das Asyl zu benützen, ausgeschlossen, in Berlin gilt dies nur von Betrunkenen oder mit ekelerregenden sichtbaren Krankheiten behafteten Personen. Die Desinfektionseinrichtung fehlt in Wien vollständig.

Im Berliner Asylhaus gelangt man vom Badesaal wie vom Waschsaal am Aufnahmeschalter vorbei in die Speisehalle, an der die Küche liegt, deren Kochkessel für 400 Liter Suppe, 200 Liter Kaffee und 50 Liter Milch eingerichtet sind. Am Küchenschalter werden die Speisen in Empfang genommen. Die Speisehalle ist mit Tischen und Bänken für 300 Personen versehen. In diesem Raum können die Asylisten auch ihre Kleider ausbessern, wozu die Verwaltung das Material liefert.

Im Wiener Asylhaus wird man vom Untersuchungsraum sofort in den Speisesaal dirigirt, wo man auf dem Bette sitzend seine Einbrennsuppe verzehren kann. In Berlin ist der Asylist nicht gezwungen, seine Suppe im Schlafsaal zu verzehren, und er bekommt auch nicht eine Einbrennsuppe von so herabgeminderter Qualität wie in Wien, sondern laut Vorschrift: einen Napf Suppe mit 40 Gramm Reis oder Mehl und 7.5 Gramm Fett. Zu der Suppe wird ein Stück Brot von zirka 200 Gramm geliefert, genügt dies nicht zur Sättigung, ein weiteres Stück von zirka 50 Gramm. Am Morgen bekommt der Obdachlose einen Napf Kaffee (per Napf und Kopf zirka 3 Gramm Kaffeebohnen entsprechend) mit zirka 15 Kubikzentimeter Milch und eine Schrippe. In Wien gibt es auch am Morgen Einbrennsuppe und Brot.

Das Berliner Haus ist zentral geheizt, auch die 14 Schlafsäle mit je 50 Betten; im Wiener Asyl steht in jedem Schlafsaal ein eiserner Ofen. In Berlin ist auch die ganze Nacht über stündlich Temperaturkontrole, in Wien keine. Ebenso wie in Wien den Schlafsälen fast jede Ventilation mangelt. Im Berliner Hause ist eine Dampfmaschine für Ventilation und für Wäscherei mit Rolle von acht Pferdekräften aufgestellt. Die Ventilation ist eine künstliche, und zwar preßt ein Ventilator die frische Außenluft in unterirdische Kanäle, die alle Räume des Asyls durchziehen. In Wien geschieht die Luftzufuhr durch Oeffnen der Fenster – dies natürlich erst dann, wenn die Schlafräume leer sind. Die Beleuchtung des Berliner Hauses ist elektrisch; 200 Glüh- und 14 Bogenlampen spenden den Räumen das Licht, das von einer 25pferdekräftigen Maschine hergestellt wird. Im Wiener Asyl ist die Beleuchtung Gasglühlicht und ab 7 Uhr Abends ein kleines Petroleumlämpchen als Nachtbeleuchtung. In Berlin beginnt die kleine Nachtbeleuchtung erst um 9 Uhr Abends. Bis dahin können die Asylisten unter anderen Beschäftigungen auch dem Lesen obliegen. Es steht ihnen eine Bibliothek von fünfhundert Bänden zur Verfügung. Im Durchschnitt werden täglich hundert Bände ausgeliehen. Eine solche Einrichtung ist in Wien ganz fremd.

Schon diese kleine Gegenüberstellung der wesentlichsten Punkte der Fürsorge für die armen Obdachlosen wird zeigen, wie viel der Wiener Anstalt mangelt, und wie Wenigen selbst diese mangelhafte Wohlthat geboten werden kann. Es ist dies gewiß nicht die Schuld des Asylvereines, der seit dem Jahre 1869 mehr als 2 ½ Millionen Obdachlosen Asyl geboten hat. Der Verein thut viel, aber seine Mittel sind sehr beschränkt.

Damit soll allerdings nicht gesagt werden, daß nicht auch mit den geringen Mitteln, die dem Verein heute zur Verfügung stehen, manches besser sein könnte. Auch der Berliner Verein krankte einige Zeit an alten Einrichtungen und an dem Mangel eines festen Kontrolsystems – das alles ist aber heute besser geworden. Um dies konstatiren zu können, braucht man nur das «Regulativ und die Instruktion für die Beamten des Männerasyls» zur Hand zu nehmen. Da hat jeder seinen streng begrenzten Pflichtenkreis, und jeder hat auch seine Verantwortung. Und noch Eines: ein ganzer Stab von Beamten theilt sich in der Sorge um die Asylisten. Da gibt es einen Inspektor, den Hausvater, den Maschinenmeister, den Bademeister, den Badewärter, zwei Desinfekteure, den Portier, zwei Aufseher (für die Eß- und Sammelhalle), einige Köche und einen Maschinenmeistergehilfen. Also dreizehn Personen – für das Wiener Frauen- und Männerasyl zusammen besteht das Verwaltungspersonal aus vier Personen: dem Sekretär, dem Hausvater und zwei Hausmüttern, denen vielleicht auch Küchenmädchen zur Seite stehen. Sonst sind nur noch der Asylhausknecht und sein Gehilfe da – beide selbst Asylisten, die gegen die asylmäßige Wohlthat und gegen ein Mittagmahl in der Volksküche diesen Dienst ohne Lohn verrichten.

Wir hoffen, daß diese Darstellung der Berliner und Wiener Asylverhältnisse speziell die Wiener Kommune an ihre Pflicht erinnern wird, für die Obdachlosen der Millionenstadt auch etwas zu thun. Das Wenige, was sie thut, besteht darin, daß auch sie ein Asyl- und Werkhaus unterhält, in dem aber, gleichwie in dem Berliner städtischen Asyl, die Obdachlosen vor der Polizei nicht sicher sind. In den Unterkunftshäusern der Asylvereine dagegen werden sowohl in Wien als auch in Berlin die Asylisten weder um Namen noch um Stand gefragt – ein Umstand, der für viele, die ihr Elend verbergen wollen, die Wohlthat eines Nachtlagers erst zur Wohlthat macht. Die Kommune hat aber auch Pflichten gegen den Asylverein. Diese möge sie erfüllen. Der Ausbau, respektive moderne Umbau der Wiener Asylhäuser ist dringend notwendig – dieser Ueberzeugung werden sich auf die Dauer auch nicht die christlichen Stadtväter des allerchristlichsten Wien verschließen können.

 

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