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Max Winter

Im Zeichen der rothen Laterne

Ein Tag bei der Rettungsgesellschaft*)

Arbeiter-Zeitung Nr. 355 vom 25. 12. 1896

«Die Rettungsg’sellschaft!» Die Leute bleiben stehen, und schauen dem schwarzen Räderkasten nach, der durch die Straße saust. Das dumpf-rollende Pfeifsignal ertönt fast unausgesetzt, und eh’ man sich noch recht umdreht, ist der Wagen schon wieder außer Sehweite. Fünfzehn Jahre schon ist unser Straßenleben um dieses Bild reicher, und doch bleiben immer noch die Leute auf der Gasse stehen, wenn der Rettungswagen naht. Die rothe Laterne am oberen Rand der Brustwand des Wagens, die rothvioletten Kappen der Rettungsmänner auf dem Kutschbock müssen beruhigende Vorstellungen erwecken, sonst wäre das Interesse für den Rettungswagen kein so lebendiges mehr...man hätte sich an seinen Anblick so gewöhnt wie an den Anblick eines schnellfahrenden Fiakers. Während der aber eher beängstigt, beruhigt uns der Rettungswagen, durch die Vorstellung, daß er so schnell fährt, um Menschen zu helfen, ihnen in ihrer plötzlichen Pein erste Hilfe zu bringen. Und das ist in der Millionenstadt, wo tausend hilfsbereite Hände sich finden, nicht so leicht, erste Hilfe zu bringen, früher an Ort und Stelle zu sein, wie der oft im Nebenhause wohnende Arzt, und Minuten bedeuten oft ein Menschenleben. Eine Blutung, die eine Minute zu spät gestillt würde, kann schon Verblutung sein, ein Gift kann den vollen Effekt seiner Wirkung gerade in der Minute äußern, um die die Hilfe zu spät kommt, bei Erstickungsanfällen können Sekunden maßgebend sein. Dem bereits Erstickten bringt der Luftröhrenschnitt und die Einführung der Kanüle nicht mehr Rettung, und so gibt’s hunderte von Fällen, in denen nur raschestes Eingreifen Hilfe bedeutet.

Nach solchem Prinzip muß denn auch ein Rettungsdienst organisirt sein. Die Rettungsmänner vom Stubenring haben solchen Dienst. Es kann kaum ein ruhigeres Haus geben als die Zentrale der Freiwilligen Rettungsgesellschaft. In seinen Räumen wird fast kein lautes Wort gesprochen. Was die Techniker ersonnen haben, Verständigungsmittel ohne viel Geräusch zu schaffen, ist hier in Verwendung. Ein halb Dutzend verschiedener Glockensignale, die dem immer vernehmbar sind, den sie angehen, ersetzt die Kommandoworte, mit denen sonst weise gespart wird. Nur so ist es möglich, daß zwischen der telephonischen Meldung und Aufnahme eines Unfalls und der Abfahrt des Wagens selten mehr als eine Minute verstreicht. Zehn Aerzte machen abwechselnd Dienst. Vier von ihnen haben stets Inspektion, und einer dieser vier ist der «Führer», das heißt der Verantwortliche. Er ist stets in der Nähe des Telephons. Jetzt klingelt’s. In der nächsten Sekunde schon hat der Arzt die Hörschale am Ohr. Man hört nur ein halbes Telephongespräch: «Rettungsgesellschaft.» «Wo?» – «Gasse?» «Nummer?» «Wer meldet?» «Danke!» Während der «Führer» dies spricht, drückt er schon auf einen Knopf, der eine Klingel in Bewegung setzt, die die Ärzte und Diener verständigt, daß etwas los ist. Der Beamte steht bereits beim Tagebuch. Jetzt gibt der Führer das Hörrohr aus der Hand: «Dr. X.... – Gegenmittelkasten – Irrengurten – Mariahilferstraße zirka 100; Vergiftung.» Der ausfahrende Arzt und die zwei Diener sind auch schon bei der Thür draußen, und ehe noch der Beamte ein Wort geschrieben, rollt der Rettungswagen schon beim Thor hinaus, besetzt mit dem Rettungspersonal und ausgestattet mit den nöthigen Rettungsmitteln. Der Führer sagt inzwischen noch dem Beamten an: «10 Uhr 25, Meldung Mayer und Sohn, Mariahilferstraße Nr...» und wendet sich schon einem Ambulanten zu, der auf der Station erste Hilfe sucht. Der Beamte trägt nun in sein Buch ein: «P. N., 7625, 10 Uhr 25 melden Mayer und Sohn, Mariahilferstraße Nr....., die Vergiftung eines anscheinend Irrsinnigen, Mariahilferstraße zirka Nr. 100. Arzt: Dr. X.....; Diener: Y. Z.» Der Beamte hat diese paar Zeilen noch nicht geschrieben, und der Rettungswagen ist gewiß schon beim Schwarzenbergplatz, denn kaum zehn bis zwölf Minuten nach der telephonischen Meldung ist der Wagen schon vor dem Hause Nr. 100 der Mariahilferstraße und verabreicht der Arzt dem Vergifteten auch schon die entsprechenden Gegenmittel, die er im «Gegenmittelkasten» mitführt.

* * *

Inzwischen arbeitet die «Ambulanz». Ein Druckereihilfsarbeiter erschien mit einer Hautlappenwunde auf der rechten Hand, die er mit einem schmierigen, blutgetränkten Tuch umwickelt hat. Ein zweiter Inspektionsarzt und zwei der anwesenden Mediziner, die zu Studienzwecken auf der Station sind, sind um ihn bemüht. Der Mann im blauen Arbeitskittel wird zunächst aufgefordert, sich in den Operationssessel zu setzen. Der Sessel ist so eingerichtet, daß er bei Ohnmachtsanfällen der Hifesuchenden sofort in ein Ruhebett umgewandelt werden kann, ohne daß der Hilfsbedürftige aufzustehen brauchte. «Setzen Sie sich!» ... sagt der Arzt. Ein Mediziner ergreift die verletzte Hand und befreit sie von dem schmierigen Tuch. Der Diener hat schon auf das kleine Operationstischchen die Eiterschalen gerichtet, der Arzt nimmt aus einem Glas die karbolgetränkten Wattapropfen, und der zweite Mediziner macht den Schlauch des Irrigators los. Das alles ist das Werk weniger Sekunden. Die Wunde liegt bloß. «Wie ist Ihnen das geschehen?» – «Ich bin in die Maschine gekommen.» Weiter fragt der Arzt nicht. Der Irrigator ist in Funktion. In dünnem Strahl rieselt das Karbolwasser auf die Wunde, diese von der Fett- und Blutschichte reinigend, die sie verklebt. Die bereits gestillte Blutung beginnt wieder, die Wunde von innen heraus reinigend. Das ist nothwendig. Eine Minute später beginnt das Verbinden. In kurzen Intervallen sagt der Arzt: «Kompresse», «....formgaze» (das Wörtchen: «Jodo» wird erspart), «Battist» (hier erspart der Arzt die nähere Bezeichnung: Billroth), «Watte», «Armschlinge». Er sagt es ruhig, ohne Aufregung, ohne nervöse Hast, der Verletzte hört es kaum, und ebenso ruhig, aber rasch reichen die assistirenden Mediziner und die Diener das gewünschte. In kaum drei Minuten ist das Rettungswerk vollbracht. Nun erst wird der Schützling gefragt. Wer er sei, wo und wie es ihm geschehen? Unser Patient ist Druckereiarbeiter bei der Firma Reißer in der Krugerstraße. Er hatte eine außer Gang befindliche Maschine geputzt und dabei den Zuruf des Maschinenmeisters, der die Räder in Gang setzte, überhört. So war er mit der rechten Hand in die Maschine gerathen, und es war ihm in der ganzen Breite der oberen Handfläche die Haut aufgerissen worden, so daß die Fingergelenke fast bloßlagen. Das alles gibt er ruhig an. Der Beamte steht dabei und notirt, um die Eintragung vornehmen zu können. Der Arzt gibt ihm kurze Weisung, was er weiter thun soll. Eine Minute später verläßt der Verbundene die Station mit einem: Ich danke schön, meine Herren. Zwischen Kommen und Gehen liegen nicht ganz sechs Minuten.

* * *

Die erste Ausfahrt. Es klingelt wieder. Die Polizei-Inspektion Südbahnhof meldet eine – Ohnmächtige. «Herr Redakteur, wollen Sie mitfahren?» – «Ja.» – «Dann schnell.» – Wir sitzen im Wagen. Das rumpelt und rumort, daß man sein eigenes Wort nicht versteht. Schreiend erklärt der Arzt die Einrichtung. Da der Rettungswagen nicht so leicht gebaut werden kann, daß leichte Federn und Gummiräder tauglich wären, muß auf andere Weise der Kranke gegen das Stoßen geschützt werden. Darum sind die Tragbahren so eingerichtet, daß sie am Plafond des Wagens aufgehängt werden können und während des Transportes frei schweben. Um aber auch hier noch die Stöße abzuschwächen, hängen die Tragriemen in dicken Kautschukringen, die die Verbindung mit den ins Wagendach geschraubten eisernen Haken herstellen. Ein Sprachrohr vermittelt den Verkehr mit dem Kutscher während der Fahrt. Da ist es nun eigenthümlich, daß der auch ganz leise gesprochene Worte hört, die dem Sprecher im Wagen in Folge des Polterns der Räder ganz verlorengehen. Der Wagen ist vorn an der Lenkstange und im Inneren mit elektrischem Licht versehen, das durch die Stellung eines kleinen Hebels aus- und eingeschaltet werden kann, wie man’s eben braucht. Eine kleine Blechbüchse regulirt die Temperatur im Wagen. Es ist ein sogenannter Natron – Carbon – Heizapparat, der einmal in heißes Wasser gesteckt, 24 Stunden lang Wärme ausstrahlt. Wo wir fahren, bleiben Leute stehen und sehen dem Wagen nach. In zehn Minuten hält der Rettungswagen vor dem Südbahnhof. Der diensthabende Wachmann weiß noch gar nicht, daß etwas geschehen ist, aber die Gepäckträger weisen uns in die Ausfahrtshalle.

Dort ruht auf einer Bank ein Proletarierweib. Die Lippen sind braunroth, wie mit gestocktem Blut umrändert. «Sie hat sich in d’ Zungen ’bissen,» sagt der Wachinspektor. Die Sanitätsdiener haben einstweilen die kleine Sanitätstasche geöffnet, die bei allen Ausfahrten mitgenommen wird – sie ist sehr handlich, mäßig im Gewicht und enthält doch so ziemlich alles, was man bei kleineren Unfällen als nöthig denken kann: doppeltes Verbandzeug, Schienen für Brüche, Phiolen mit «Gegengiften», ein kleines Medikamentenkästchen, eine zweitheilige kleine Instrumententasche, eine Frottirbürste (für die aus dem Wasser Gezogenen), einen Esmarch’schen Schlauch zum Abbinden von Armen und Beinen bei Blutungen, Löffel, Trinkbecher, Cognac, Riechsalz, Kirschlorbeer, eine Spritze für Injektionen, einen Jodoformstauber, Sicherheitsnadeln, eine Uniformscheere, zum Aufschneiden von Kleidungsstücken und zwei Vormerkbücher – in jeder Seitentasche eines –, das alles ist in der kleinen Sanitätstasche untergebracht, und zwar so untergebracht, daß man’s auf einen blinden Griff findet.

Der Arzt öffnet der Frau, die in epileptischen Zuckungen daliegt, die Lippen. «Ein epileptischer Anfall,» sagt der Arzt ruhig. Ohne daß er eine Anordnung getroffen hätte, haben die Sanitätsdiener bereits dem Tropfenkasten das Fläschchen mit Kirschlorbeer entnommen und auf einen Kaffeelöffel einige Tropfen gegossen. Der Arzt nimmt mit dem ruhigen Kommando: «Ein Glas Wasser» den Löffel und träufelt der Frau die Flüssigkeit in den Mund. Die Frau redet irre. «I hab’ den Zug versamt. Wie ich ’raufkomm’, lieg’ i scho’ da,» erzählt sie. Der Wachinspektor will sie aufklären: «Reden S’ net, Sie haben den Zug scho’ no erreicht, aber im Waggon san S’ z’sammg’stürzt. Wir haben Ihna do außitrag’n.» Für den Arzt ist dieses Zwiegespräch wichtig, denn er erkennt daraus, daß die Frau noch nicht ganz zum Bewußtsein gekommen. «Eine Kompresse.» Der Diener reicht ihm das Tuch, der Doktor reinigt die Lippen der Frau, die noch immer zuckt, wie wenn sie den Veitstanz hätte. Jetzt kommt das Wasser. Sie setzt das Glas an den Mund, stoßt es aber zurück mit den Worten: «Pfui Teufel, das ist bitter!» Sie kann sich nun schon aufsetzen. Das Bewußtsein kehrt allmählich zurück. Schon eine Greisin ... ist doch die erste Regung ... Eitelkeit. Ihr Haar ist in Unordnung gerathen. Sie ordnet es und entdeckt dabei den Abgang ihres Kammes. «Wo ist denn mei’ Kampl?» Ein Wachmann hält ihn mit den anderen Effekten in der Hand. Sie steckt sich das Haar auf, richtet sich das Tuch und, unterstützt von zwei Sanitätsmännern, geht sie ins Parterre des Bahnhofgebäudes. Sie wird zur Protokollaufnahme auf die Polizeiwachstube gebracht, wo sie sich allmählich erholt.

Das Mütterchen wird redselig. Sie ist 63 Jahre alt und die Frau eines Stationsdieners in Mödling, den nun seine 71 Jahre aufs Krankenlager geworfen haben. Ihr Sohn ist in der Südbahnwerkstätte beschäftigt, und dem führt sie täglich das Mittagessen von Mödling nach Wien. «’S kummt ihm do billiger als in die Wirthshäuser,» erläutert sie den ökonomischen Hintergrund der auffallenden Thatsache, daß sich ein Wiener Arbeiter von Mödling sein Mittagessen bringen läßt. «M’r soll si halt nia net tummeln. I bin so g’rennt, daß i no den Zug erwisch, mein Gott, unseran lassen die Herren im Konsum bald lang warten. Wann die ‘besseren’ Leut’ kummen, dö geh’n vor, und a alt’s Arbeiterweib muaß warten. I hab’s Ihna eh g’sagt, daß i den Zug versam – s hat aber nix g’nutzt. Dann bin i halt so g’rennt, mit mein Korb und wia i naufkumm, is’ aus.» Der Arzt fragt das Weib: «Was haben S’ denn gegessen heut?» – «Gessen? Nix no, mein’ Kaffee in der Fruah.» – «Kummen S’ a bissel her,» sagt der beim Schreibtisch sitzende Arzt. Er schreibt die Meldung der Gesellschaft an die Polizei. Und die Frau geht. «Na es geht ja schon, Frauderl, glei wird’s gut sein.» Das ist das Glück der Frau, denn sonst wäre die Polizei in Verlegenheit gewesen, wo sie untergebracht werden soll für die paar Stunden der Erholung. Die Spitäler nehmen Epileptiker nämlich nur dann auf, wenn der Betreffende im Moment der Uebergabe ans Spital einen epileptischen Anfall bekommt. Sonst wird er abgewiesen. Auf der Polizei haben sie keinen anderen Raum zur Unterbringung solcher Kranker – als die Pritsche im Arrest. Und die Rettungsgesellschaft selbst ist auch in ihrer heutigen Zentralstation räumlich so beengt, daß sie kein separates Krankenzimmer einrichten kann. Im neuen Gebäude, das Ende April eröffnet wird, wird das anders sein. Da sind zwei Krankenzimmer eingerichtet für plötzliche Fälle, wo einige Stunden Erholung genügen.

Auf der Station der Rettungsgesellschaften wird ein merkwürdiges Buch geführt: Das «Simulantenbuch». Es enthält Namen und Adressen aller derjenigen, die so verelendet sind, daß sie ihren Lebensunterhalt dadurch erwerben, Anfälle von Epilepsie auf der Straße zu heucheln. Sie rechnen mit dem Mitleid der Vorübergehenden, die solchen armen Teufeln einige Kreuzer in den Hut werfen. Das treibt der Mann, bis der Rettungswagen in Sicht ist. Dann läuft er davon, oder sein «Anfall» ist vorüber. Es mag ein Gradmesser für das Elend sein, daß zirka hundert Arme zu diesem Erwerbszweig in Wien Zuflucht nahmen, um sich durchs Leben zu schlagen. Trauriges Brot!

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Wehleidigkeit und Simulation war auch die Diagnose, die ein anderer Arzt bei einer zweiten Ausfahrt stellen mußte. «Mutter und Kind überfahren.» So hatte die Meldung gelautet. Der «große Rettungskasten» wurde mobil gemacht, und fort ging’s. Als der Wagen vor einer Möbelniederlage auf der Mariahilferstraße hielt, wo die «Verletzten» einstweilen untergebracht worden waren, harrte schon eine große Menschenmenge des Kommenden. Die Mutter saß schreiend auf einem Sessel in einer Tapeziererwerkstätte. Das Kind neben ihr auf einer Kiste. «Na, wo fehlt’s denn?» fragte der Arzt. Die Frau, ein armes Maurerweib, die mit ihrem unehelichen Kind in Favoriten zu Bett ist, wies auf das Armgelenk. Der Doktor untersucht und findet nichts. Er drückt, und nun empfindet die Frau im Ellbogengelenk Schmerz. Der Arzt untersucht dort, findet wieder nichts, und so wird der «Schmerz» endlich ins Handgelenk verlegt. So wechselt der Schmerz, ohne daß der Frau etwas gebrochen oder verrenkt wäre. Dabei schreit sie fortwährend furchtbar. Das Kind ist heil. Der ganze Unfall reduzirt sich auf eine leichte Kontusion. Der Arzt macht der Frau einen «Beruhigungsverband», läßt einen Einspänner holen und schickt Frau und Kind nach Hause. Das Kind, ein lieber Bauxel, hat inzwischen Kaffee bekommen und ist glücklich über das «Glück» des Unfalls. In dem Fall hätte eine ganz andere Rettunsgesellschaft eingreifen müssen, um der hungernden Proletarierin zu helfen.

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Geburtsort: Rettungswagen. «Alserbachstraße – Straßengeburt!» lautet eine nächste Meldung. Unterm Hausthor Nr. 11 sind zwei ältere Zigarrenarbeiterinnen um eine junge Proletarierin bemüht. «Tragbahre!» ordnet der Arzt an. Das Mädchen wird auf die Bahre gelegt, der Arzt untersucht die von Mutterwehen Befallene. «Gebärklinik!» Und fort geht’s, nachdem eine aufhaltende Formalität erfüllt ist. Der Rayonwachmann will nämlich Name, Alter, Stand und sonst noch was wissen. Der Arzt erfüllt den Wunsch. Knapp vor dem Ziele, dem Thor der Gebärklinik, kommt das Mädchen noch im Rettungswagen nieder. Der Diener kommt zum Fenster. «Ausladen?» – «Hebamme soll kommen.» Eine halbe Minute später schiebt sich eine rundliche Frau in den Rettungswagen, um das «Christkindl» in Empfang zu nehmen. Das Kind war asphyktisch, leblos, es athmete nicht, und der Arzt klopfte dem kleinen Wesen mit der flachen Hand auf die Brust und schüttelte es, um es zum Leben zu bringen. Die Wöchnerin athmet erleichtert auf. Der Arzt kümmert sich nicht um sie. Er hat nur Augen für das Kind. Zwei Minuten, und der jüngste Proletarier beginnt zu schreien, leise erst, dann immer stärker. Er reklamirt zum erstenmal sein Recht zum Leben, das ihm die Freiwillige Rettungsgesellschaft geschenkt hat. Wäre der Wurm nicht gleich in die Hände eines Sachkundigen gekommen, so wäre eine Todtgeburt zu verzeichnen gewesen. Die Mutter empfindet dies. «Was is’ denn?» fragt sie. – «Ein Bub!» – «Geb’n S’ m’r die Hand, Herr Doktor.» – Sie drückt dem Retter die Rechte und will sie küssen. Es ist eine ungemein rührende Szene. «A Bua! Der bringt si do leichter durch, als a Madel, küß’ d’ Hand; Herr Doktor, Küß’ d’ Hand!» Das Uebrige geht rasch. Mutter und Kind sind dank der raschen Hilfe außer Gefahr.

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Die Wachleute können nicht telephoniren. Der «Führer» kommt vom Telephon zurück: «So oft so ein Wachmann telephonirt, weiß man nicht, was los ist. Er schreit was hinein und läutet gleich ab.» 25 Minuten später klingelt’s wieder: «Schlaganfall – Landstraße Hauptstraße Nr 110.» Die Rettungsgesellschaft ist in 7 Minuten auf dem Platze. «Na, drei Viertelstund’ brauchert’s do nöt zu dauern.» Das ist der Gruß, der den Rettungsmännern wird. «Es ist eben erst telephonirt worden,» sagt der Arzt. Einer aus der Menge: «Vor drei Viertelstund’ is der Wachmann schon zum Telephon!» Es war derselbe, dessen Meldung der Führer nicht verstehen konnte. Der Fall wickelt sich gewöhnlich ab. Tragbahre – Rudolfsspital – Uebergabe – Rückfahrt. Eine halbe Stunde nach der Ausfahrt ist der Rettungswagen wieder in der Station. Dennoch wird es Leute geben, die meinen, daß der Wagen zur Hinfahrt allein drei Viertelstunden braucht. Es ist nichts anderes schuld, als daß die Wachleute nicht telephoniren können. Das könnten sie doch lernen. Wir meinen so.

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So geht’s fort. Jede Stunde bringt hundert neue Erfahrungen. Man müßte Bände schreiben, wollte man alles schreiben, was man sieht, hört, und was man erfährt und miterlebt. Wer erfahren will, wie das Volk lebt, siecht und stirbt, wer die Leiden der Proletarier intim studieren will, der studiere die Erfahrungen der Rettungsgesellschaft, denn mit Proletariern in erster Linie hat diese Institution zu thun. Er wird Dinge erfahren, die er sich sonst nicht erträumt, an deren Wahrheit er zweifeln würde, wenn er sie liest.

*) Durch das Entgegenkommen des Chefarztes der Ersten Wiener Freiwilligen Rettungsgesellschaft wurde es einem Redakteur der «Arbeiter-Zeitung» möglich, den Rettungsdienst am 23. Dezember mitzumachen. zurück

 

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